Grünkraft
von Evamaria Bohle
10.08.2024 06:20
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Raus, nur raus! Aus der Stadt, in die Natur. Hildegard von Bingen im Mittelalter hat erkannt, wie heilsam es ist, im Grünen zu sein.

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Raus, nur raus! Aus der Stadt, in die Natur. Ein Tiny-Haus am Waldrand. Stille garantiert. Natur. Vielleicht ein See in Barfußnähe. Mit Schilf und einem Steg aus rohem, verblichenem Holz, in dem sich die Hitze des Tages sammelt und das noch eine Weile nach Sonnenuntergang Wärme abgibt. Das Wasser schimmert seidig kühl, dunkel und glatt. Und dann schlendert man Hand in Hand - denn in der Regel ist man zu zweit - zurück auf die winzige Terrasse. Hoffentlich ohne Mücken und Zecken. Und ohne Brennnesselkontakt. 

Raus, nur raus! Aus dem Haus, auf die Straße. Frische Luft schnappen. Ewas anderes sehen als die eigenen vier Wänden. Auch wenn die Knochen weh tun und die Schritte mühsam sind und das Städtchen wenig Sehenswertes verspricht. Wenigstens ein paar Schritte vor die Tür. Schauen, was die Birken heute machen, wie sie Parade stehen in der Allee zum Ortsausgang hin. Wie das Licht tanzt auf den Hochsommer-dunkelgrünen Blättchen, auf den weiß schimmernden Stämmen. Vereinzelt fallen schon Blätter. Im Herbst wird ihr goldenes Gelb den grauen Himmel erträglicher machen. Und in den Wintermonaten zaubern die zarten Zweige tanzende Silhouetten der Leichtigkeit in den Himmel. Windspiele besonderer Art. Trost am Straßenrand. 

Raus nur, raus. Hoffnung suchen gehen. Bäume des Lebens und Unkraut der Erkenntnis. Lauter leise Grüße aus dem Paradies. Vor dem Fenster. Im Hinterhof. Am Straßen- oder Waldrand. Denn sie trägt grün, die Hoffnung, sagt der Volksmund. Überall zu finden. Nicht ausrottbar. Zwängt sich durch Ritzen und nistet in Krisen, blüht am Straßenrand, lungert moosig auf Grabsteinen, windet sich aus seelischen Abgründen. Ungepflegt ausgesät, wuchernd, blühend, wippend im Fahrtwind der Ratlosigkeit.

Raus, nur raus … Grün ist die Hoffnung. Das Leben. Die Grünkraft. Hildegard von Bingen, begabte Äbtissin im 12. Jahrhundert, hat sie in Pflanzen, Tiere, Mineralien und Menschen erkannt. Die grünende Kraft, die von G’tt kommt und aus der das Leben sich schöpft, immer wieder neu. "Viriditas" nennt Hildegard die Grünkraft auf Latein, lächelt vom Rhein herüber und schlägt vor, die Seele als Grünkraft des Leibes zu begreifen. Es tue ihr gut, sich ins Grüne zu begeben.

Raus, nur raus also, um einzutauchen ins erfrischende Grün und seine heilende Kraft. In G’ttes Kraft. Aus allen Dingen - Unkraut, Birke, Badesee - quillt sie gleichsam uns entgegen. - Raus, raus, also!

Es gilt das gesprochene Wort.