Menschengedenken

Wort zum Tage

epd-bild/Rolf Zoellner/Rolf Zoellner

Menschengedenken
Pfarrer Thomas Jeutner
22.04.2022 - 06:20
13.01.2022
Thomas Jeutner
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„Mir fällt es im Moment schwer, irgendwas zu tun“, sagt Angela. Und sie erzählt von ihrer Ohnmacht, wenn die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine auf sie einströmen. Als sie mich anspricht, ist in unserer Gemeinde in Berlin-Mitte gerade das Friedensgebet zu Ende gegangen. Menschen aus Russland und aus der Ukraine haben in ihren Sprachen ein Gebet gelesen. Ein junger Dichter erzählte von seiner gerade noch gelungenen Flucht aus Kiew. Jetzt möchte er mit Freunden Benefiz-Programme und eine Hilfsaktion starten. Andere erzählten, wie sie auf dem Hauptbahnhof als Ehrenamtliche im Einsatz sind, beim Ankommen der Geflüchteten.

 

„So aktiv würde ich auch gerne sein“, sagt Angela. Und sie räumt ein: „Ich spende Geld an die Hilfsorganisationen. Für mehr - habe ich nicht die Kraft“. Sie berichtet, wie es für sie oft keine Grenzen mehr gab, wenn sie sich für Freunde in Not einsetzte, bis zur Erschöpfung. Inzwischen hat sie selbst eine kleine Familie. Gerade nach den Einbrüchen durch die Corona-Zeit will sie wieder in ihrem Beruf sein. Angela ist Sängerin, und freut sich über jedes musikalische Projekt, über jedes Konzert, zu dem sie wieder eingeladen wird. Aber die Ereignisse des Krieges haben sie gelähmt. So viel wäre zu tun, meint sie - aber wo könnte dabei ihre Aufgabe sein?

 

Von den aus der Ukraine geflüchteten Menschen berichtet Angela, die sie am Hauptbahnhof getroffen hat. Sie kann die erschöpften Gesichter der Frauen und Kinder nicht vergessen. Während sie darüber spricht, wird auf einmal ihr Gesicht hell. „Was meinst du“, fragt sie, „wenn ich etwas singe, wenn wir uns hier an der Kapelle wieder treffen?“. Von einem jahrtausendealten Text erzählt sie mir, das aus der jüdischen Tradition kommt. Das berühmte „Kaddisch“. Zu Herzen geht Angela eine Vertonung aus dem Kriegsjahr 1914, von Maurice Ravel.

 

Beim nächsten Friedensgebet trafen wir uns wieder, unter freiem Himmel. Angela hatte ihre Aufgabe gefunden. Es gab eine Stille, ein Schweigen, gewidmet dem Gedächtnis all derer, die getötet wurden. Auf beiden Seiten dieses Krieges. Ein Menschengedenken für die umgekommenen Kinder, Frauen, Männer. Für die Soldaten.

 

In die Stille hinein erhob Angela ihre Stimme. Das Kaddisch, das „Heilig“, besingt die Größe der Gotteskraft, die Weite ihres Wesens. „Gott schafft Frieden in der Höhe“, sang Angela die Schlussverse vom Kaddisch. Die dabei waren, hielten den Atem an. Und lauschten auf den Text: „Möge Gott uns, und ganz Israel, und allen, die auf Erden wohnen, Frieden geben. Darauf sprecht: Amen“.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

13.01.2022
Thomas Jeutner