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Wort zum Tage
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01.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrer Klaus Möllering

Ostern bedeutet für mich, noch einmal neu auf das Leben zu sehen. Auch wenn man so alt geworden ist wie Herr Ahrens. Ich lernte ihn kennen, als er in der Seniorenresidenz einzog, wo ich Seelsorger bin. Da wirkte er, hager und mit dem scharfen Blick, mit dem er mich musterte, zunächst mürrisch und ungeduldig. Mit dem Leben hatte er eigentlich abgeschlossen. „Hier haben Sie alles, was Sie brauchen für meine Beerdigung“, war so ziemlich der erste Satz, den ich von ihm zu hören bekam, dabei drückte er mir seine Lebenserinnerungen in die Hand. „Ich denke, bis zum Ende sollte es nicht mehr lange dauern“, sagte er immer wieder, jedes mal etwas ungeduldiger. Es gefiel ihm nicht, dass sein Leben, das er doch immer so exakt durchgeplant hatte, sich nun seiner Planung verweigerte und irgendwie weiterging – wohin sollte das schon noch führen?

 

Ein paar Jahre ist das jetzt her – mittlerweile habe ich Herrn Ahrens besser kennen gelernt. Es sieht immer noch ziemlich spartanisch aus in seinem Apartment; als ob er auf der Durchreise wäre und es sich eigentlich nicht lohnte, sich aufwändiger einzurichten. Ein etwas vergilbter Kalender hängt an der Wand mit Bildern von beeindruckenden Brücken und ähnlichen Großbauten. Herr Ahrens war ein recht erfolgreicher Ingenieur, ein guter Manager für solche Vorzeigeprojekte. Noch heute ist er stolz darauf, wie er dabei alles im Griff hatte – die Kräfte, die auf solche Bauwerke wirken genauso wie die Menschen, die sie nach seinen exakten Vorgaben bauten, viele Jahre lang. Genau so lange, wie er wollte. Damit er dann Zeit hatte, sich auf ausgiebigen Reisen die Welt anzusehen. Bis schließlich seine Gesundheit nicht mehr mitspielte und er bei uns einzog, weil er dachte, jetzt sei seine Laufzeit wohl zuende. Eben wie bei einem seiner Bauwerke, die ja auch nicht für die Ewigkeit gemacht sind.

 

Lange Gespräche führte Herr Ahrens damals mit mir, ob er sein Leben nun aus der Hand geben sollte – geplant, so wie er ja auch alles andere darin geplant hatte. Aber dann erholte er sich wieder, selbst wenn er für seine Spaziergänge nun zwei Stöcke brauchte. Die Jugendlichen aus der Kirchengemeinde, die ihn für eine Weile besuchten, fanden ziemlich interessant, was er von seinen großen Bauten und den vielen Reisen zu erzählen hatte; genauso wie es Herrn Ahrens nun interessierte, was die jungen Leute so beschäftigte. Allmählich verwandelte er sich. Am deutlichsten merkte ich das nach einer schweren Krankheit. Aber auch diese Krise ließ er hinter sich. Seine Ungeduld ist seitdem verschwunden – wie wenn er darauf vertraut, dass nun ein anderer einen größeren Plan für ihn hat. „Ich weiß zwar nicht, was noch kommt“, sagt er manchmal. Er sitzt jetzt im Rollstuhl, aber seine frühere Reiselust scheint innerlich wieder erwacht, wenn er sagt: „Ich nehme einfach jeden Tag für sich, immer wieder neu. Und bin dafür dankbar.“

11.01.2016
Pfarrer Klaus Möllering