Schweigen hat seine Zeit

Wort zum Tage
Schweigen hat seine Zeit
08.08.2015 - 06:23
23.06.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Es ist gut zwei Jahre her, dass ein Mann in Istanbul durch sein Schweigen auf der ganzen Welt von sich reden machte. Am Abend des 17. Juni 2013 stellte Erdem Gündüz sich auf den Istanbuler Taksim-Platz, der durch Polizeieinsatz vorher leergefegt worden war. Wie viele andere wollte er sich von seinem Ministerpräsidenten Recep Erdogan aber nicht den Mund verbieten lassen. Da allerdings schon alles gesagt worden war gegen die von diesem Politiker und seiner Partei vorangetriebene Islamisierung der Türkei, wählte der Künstler Gündüz ein viel wirksameres Mittel: Er stellte sich auf den Taksim –Platz und tat nichts. Mehrere Stunden stand er einfach da, die Hände in den Hosentaschen und schaute geradeaus, die Augen auf das Porträt des Staatsgründers Atatürk gerichtet. Ein stummer Dialog über die Grundlagen dieses Staates, die Atatürk geschaffen hatte. Er stand da und schwieg. Die Polizisten wussten nicht, was sie tun sollten. Herumstehen und schweigen war ja immerhin nicht verboten. Sie durchsuchten ihn und gingen weiter. Doch dann kamen andere Leute dazu, stellten sich auch hin um zu schweigen. Auch an anderen Plätzen der Stadt und in weiteren türkischen Städten. Im Internet hatte sich die Aktion rasch verbreitet unter dem Namen „Stehender Mann“. Und nun wurden die Menschen aufgerufen, jeden Abend um acht fünf Minuten dort stehen zu bleiben, wo sie gerade sind, um zu schweigen.

 

Schweigen als Kunst des Weisen. Ja, der weise Prediger des Alten Testaments stellt fest: „Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit.“ Vor das Reden ist das Schweigen gesetzt. Hier als Mittel des gewaltlosen Widerstands. Schweigen als schöne Geste des freien Menschen. Mich hat diese Zeichenhandlung damals fasziniert und berührt. Ich bin sicher, sie hat in diesem Land Gewalt verhindert und einen Raum geschaffen für wesentliche Fragen.

 

Jetzt stelle ich mir vor, in ganz Europa würde so eine Menschenkette der Schweigenden entstehen. In diesem Europa, in dem in den letzten Wochen und Monaten so viel geredet wurde. Vor allem über Geld. Über Schulden. Über Hausaufgaben. Wo Unverständnis und Missverständnisse aufgetürmt wurden zu Mauern der Trennung. Ich stelle mir vor, es gäbe so eine Art rituelles Schweigen. Angeführt von einem Menschen in Athen bis in den Norden Finnlands, über alle 22 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Eine Zeitlang würden wir alle abends um 8 für 5 Minuten innehalten, dort wo wir unterwegs sind, schweigen und ein paar Fragen meditieren: Wo schreit das Unrecht zum Himmel? Wie wollen wir zusammenleben? Was verbindet uns?

23.06.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen