Wort zum Tage
Gemeinfrei via unsplash/ Noah Buscher
Spiegelbetrachtung
von Pröpstin Christina-Maria Bammel
29.05.2024 04:20
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Der Morgen ist noch jung. Zu den ersten Blicken gehört der in den Spiegel. Im Bad oder Flur zu Hause oder unterwegs im Auto. Eventuell mit einem kleinen Lächeln zur Selbstaufmunterung. Oder noch etwas zerknautscht oder topfit. Vielleicht haben Sie auch schon ein erstes Selfie gemacht und an jemanden geschickt.

Gar nicht so leicht, sich vorzustellen, dass es vor zweieinhalb Jahrtausenden so gut wie keinen Spiegel im Haushalt gegeben hat. Das war unerschwinglich für Normalverdiener. In antiken Zeiten war ein Spiegel eine Kostbarkeit, gern mit Griffen aus Elfenbein oder Ebenholz. Pharaonen haben einander Spiegel geschenkt. Die Mehrheit der Bevölkerung musste sich mit dem begnügen, was sich von ihrem Gesicht auf der Wasseroberfläche vielleicht gespiegelt hat.

Spiegel waren selten und teuer. So gibt es auch in der Bibel nur wenige Worte über Spiegel; die aber sind wertvoll. Eines spricht von einem besonderen Spiegel: dem Herz des Menschen. Da steht: „Wie sich das Angesicht eines Menschen im Wasser spiegelt, so spiegelt sich das eigene Herz im Herzen eines anderen Menschen.“ (Sprüche 27,19)

Paare suchen sich dieses Wort aus als biblischen Trauspruch zu ihrer Hochzeit. Dass sich das eine Herz im anderen spiegelt, wer würde sich das nicht für eine lebenslange Beziehung zu zweit wünschen? Sich in diesem geliebten, anderen Menschen erkennen können, das macht das Leben zu zweit wesentlicher. Und ein bisschen verbindet sich damit auch die Hoffnung, dass es gerade meine besten Seiten sind, die sich im anderen, geliebten Menschen spiegeln.

Es geht es um Offenheit. Ich traue mich, mein Herz, mein Innerstes dem anderen Menschen zu zeigen. Was er in mir sieht und mit seinem Herzen widerspiegelt, macht mich vielleicht sogar zu einem etwas besseren Menschen. Das braucht Nähe, die glücken oder auch verletzen kann.

Der andere muss nicht der oder die Geliebte sein. Eine Freundin, ein Kollege, ein Zufallsmensch kann auch ein Gegenüber sein, in dem ich mich selbst erkenne und verstanden fühle.

Bitterarm ist es dagegen, bei sich selbst zu bleiben und sich allenfalls auf Wasseroberflächen spiegeln zu können. Narziss, die mythologische Gestalt der am Ende tragischen Selbstbewunderung aus der Antike, lässt grüßen.

Mir bedeutet das Wort vom Herzensspiegel viel. Ich glaube, Gott hört nicht auf damit, Gelegenheiten zu schaffen, in denen ich mich im Herzen eines anderen Menschen neu entdecke. Solche Gelegenheiten wahrzunehmen, um vielleicht selbst besser sehen, mich ansehen können und ansehen zu lassen, das gehört für mich zu den kleinen Wundern auch dieses Tages. Ob nun mit oder ohne Spiegel in der Hand.

Es gilt das gesprochene Wort.

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