Nur noch wenige Wochen, dann hat die Tochter unserer Autorin den Schulabschluss in der Tasche und bricht auf. Auf dem Stundenplan der Mutter steht jetzt: Loslassen lernen.
Sendung nachlesen:
In Berlin geht für die Abschlussklassen die Schulzeit langsam in die Schlusskurve. Die Tage, an denen ich in der Früh meinem Kind das Butterbrot für die Schultasche fertigmache, sind gezählt. Denn das Kind ist – ich weiß nicht wann - eine junge Frau geworden mit Visionen, Hoffnungen und Plänen, längst bereit, die Flügel zu heben.
Ich würde gern das Tempo aus den Wochen nehmen und weiß: geht ja gar nicht. Ausgerechnet jetzt muss ich öfter an die Zeilen von Reinhard Mey denken und habe dabei seine melancholische Stimme im Ohr: "Maikäfer fliege, dass ich dich nicht kriege, flieg hinaus ins weite Land, fliege fort von meiner Hand."
Ein Lied vom Flüggewerden der eigenen Kinder. Wenn Reinhard Mey singt: "Noch einmal Tränen vor dem Kindergarten", dann sehe ich meine damals Dreijährige mit wildem Haar und Feuereifer vor der Tür zur Sonnengruppe stehen. Und wenn Reinhard Mey von "Schultüten und so viel Begeisterung" singt, denke ich an eine wunderbare junge Lehrerin, die jeden noch so verträumten Erstklässler über die Hürden des Anfangs gehoben hat.
Reinhard Mey singt. "Das Selbstbewusstsein kriegt die ersten Scharten und das Vertrauen einen ersten Sprung." Dann steht mir so manches Gespräch mit meiner Tochter vor Augen, weil die Sport- und Mathe-Schulstunden nicht zu den glücklichsten gehörten.
Aus Kinderschritten werden Wege in eine eigene Welt. "Maikäfer fliege, dass ich dich nicht kriege. Flieg hinaus ins weite Land, fliege fort von meiner Hand." Als ich das Lied zum ersten Mal gehört hatte, vor über 30 Jahren, da konnte ich mir nicht im Ansatz vorstellen, einmal ein eigenes Kind durch viele erste Male, durch viele kleine und größere Abschiede zu begleiten. War doch gestern erst, dass der Säugling im viel zu großen Korb auf der Wiese stand, dass sie im Buddelkasten der Kita die Freundin für die nächsten 15 Jahre gefunden hat. War doch gestern erst, das Rucksack-Packen fürs Auslandsjahr. War doch gestern erst, das Trösten im Kummer um eine unerwiderte Liebe.
"Maikäfer fliege, [dass ich dich nicht kriege. Flieg hinaus ins weite Land, fliege fort von meiner Hand.]" Wird das Selbstvertrauen stark genug sein, wenn der Maikäfer weit fliegt? Das ist offen. Ich habe noch die gezählten Wochen mit meinem flügge gewordenen Kind. So wie Reinhard Mey singt: "Dein Bleiben ist nur noch Verweilen, gezählt und kostbar ist mir jeder Tag. Und jedes Schweigen, das wir teilen bis zum großen Flügelschlag."
Ich ahne, dass ich dem großen Flügelschlag nur meine Gebete und Wünsche hinterher senden kann. Ich hoffe: Meine Tochter spürt bei den Aufgaben, die sie vor sich hat, jene viel größere Kraft, die sie beflügelt. Das ist Glaube. Daraus kann ein Vertrauen wachsen. Und das wird ihr und vielleicht auch anderen jungen Menschen helfen, die Flügel zu heben. Maikäfer fliege!
Es gilt das gesprochene Wort.