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Sendung zum Nachlesen
Immer wenn ich über unseren Wochenmarkt gehe, bleibe ich vor dem Spiegel stehen. Es ist ein besonderer: eine ganze Spiegelwand – mehrere Quadratmeter groß. Auf ihr stehen die Namen und Lebensdaten von Opfern des Holocaust, die hier in meinem Bezirk einmal wohnten. Es sindKinder und Greise, Mütter und Väter, Nachbarn, die hier zuhause waren. Neben ihren Namen, Geburts- und Sterbedaten sehe ich mich im Spiegel. Ich sehe die anderen, die gerade Gemüse einkaufen oder am Blumenstand warten. Ich sehe die Markthändler. Ich sehe unser ganz normales Leben hier in diesem Kiez. So war es auch damals: Das Unnormale, das vollkommen Unmenschliche vollzog sich mitten im Alltag. Unter Nachbarn. Es vollzog sich sichtbar auf den Straßen dieser Stadt und anderswo. Wer dabei war, muss in diesen Spiegel schauen. Wer später geboren wurde, sieht sich ebenfalls darin. Keiner kann sich ihm entziehen.
Vor kurzem bin ich wieder an dieser Wand vorbeigekommen. Es war Dezember – mitten im Advent. Es war dunkel, doch an der Spiegelwand leuchtete es hell. Es war Musik zu hören. Junge Menschen, Mütter, Väter, Kinder hatten sich dort versammelt – unter ihnen auch ein Rabbiner. Es wurde getanzt und gesungen. Die Stimmung war fröhlich. Sie spiegelte sich in den Gesichtern. Das Leben hier und jetzt - es spiegelte sich in dem, was einmal war und so grausam beendet wurde.
Es war Chanukka, das jüdische Lichterfest. Nur selten ist es so, wie vergangenes Jahr im Dezember: Das christliche Weihnachtsfest, die vierte Adventswoche, beides fiel mit Chanukka zusammen. Am Brandenburger Tor, dem berühmten Wahrzeichen von Berlin, steht jedes Jahr ein großer Chanukka-Leuchter. Die Berliner Bürgermeisterin ist dabei, wenn er entzündet wird, die Bischöfe der Stadt sind es auch. Jüdisches Leben ist wieder sichtbar. Doch diesmal war etwas anders. Diesmal war Chanukka mitten in meinem Kiez. So wie ein paar Ecken weiter Weihnachtslieder geblasen und Glühwein getrunken wurden. Jüdische Nachbarn haben auf dem Platz gesungen und gebetet und gefeiert. Die Männer mit der Kippa auf dem Kopf, die kleinen Jungs mit Schläfenlocken. Jüdischer Alltag in Berlin. Es war hier ganz normal. Jedenfalls beinahe. Ein paar Meter weiter stand ein Einsatzwagen der Berliner Polizei. Jüdisches Leben wird bewacht, immernoch. Ich hoffe und ich bete dafür, dass das eines nahen Tages nicht mehr nötig sein wird. Dass sich in der Wand nur noch das Leben spiegelt – buntes, selbstverständliches Treiben auf einem Marktplatz. Ohne Blaulicht. Ohne Angst. Ohne Gewalt.
Es gilt das gesprochene Wort.