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Liebe, die durch die Mauer geht
10.11.2024 08:35

"Das hält doch nie!", haben einige gesagt. "Da ist doch die Mauer dazwischen." Aber die Liebe von Christiane aus der DDR und John aus Amerika hat gehalten. Gegen alle Widerstände.  


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"Ich hab` erst gedacht: Der hat `n komischen Akzent, aus welchem Landesteil der DDR stammt der? Aber dass er Amerikaner war, habe ich am Anfang nicht mitbekommen."

"Diese junge Frau hat mich interessiert von Anfang an. Ja, bei mir war es auf jeden Fall Liebe auf den ersten Blick, um es kitschig zu machen. Beim zweiten Besuch war mein Interesse noch gesteigert und beim dritten hab ich mir gesagt: Diese Frau willst du heiraten!"

Liebe geht oft Umwege. Bei John und Christiane Shreve lagen gleich ein paar tausend Kilometer dazwischen - und die Mauer: über 28 Jahre lang unbarmherziges Zeichen der deutschen Teilung. Christiane Shreve wuchs in Brandenburg auf – im kleinen Dorf Reetz in der Nähe von Bad Belzig. John Shreve wurde 1952 in Missouri geboren – mehr als 7000 Kilometer entfernt. In Montana studierte er Germanistik und pendelte dann zwischen Europa und Amerika. Als amerikanischer Staatsbürger konnte er die innerdeutsche Grenze mit einem Tagesvisum passieren. Ein Zufall ließ die beiden 1977 in Ost-Berlin aufeinandertreffen: Christiane, eine junge DDR-Bürgerin, die im Sozialismus aufgewachsen war, und John, ein Amerikaner. Eine gewagte Kombination zu Zeiten des Kalten Krieges:      


"Ja, na sicher. Ich dachte: ein Amerikaner - DDR, das geht sowieso nicht. Auf der anderen Seite war ich natürlich auch neugierig, weil es einfach was anderes war, was man nicht so kannte. Und ich hab ihn dann immer gebeten für mich, da war ich damals Leonard Cohen Fan, da die Kassetten zu bringen und die Texte zu übersetzen. Das hat John dann auch immer brav gemacht… "

Die Mauer stand jahrelang als Hindernis zwischen ihrer Liebe. Eine Liebe, die gehalten hat. Heute leben John und Christiane Shreve im Südwesten Berlins. Bloß zehn Minuten zu Fuß sind es bis zum ehemaligen Mauerstreifen. Dort erinnert nichts an die Grenze von damals. Frei geht der Blick über die Felder, auf denen Kinder Drachen steigen lassen, Pärchen spazieren gehen und Hunde herumtollen. Die Mauer gibt es seit 35 Jahren nicht mehr. Die Geschichte der beiden zeigt, dass es im Leben auf Beharrlichkeit ankommt – und auf Menschen, die einen unterstützen:


"Ich war ne gute Schülerin, sollte aber kein Abitur machen dürfen, weil mein Vater selbstständiger Handwerker war und ich konfirmiert wurde und keine Jugendweihe hatte. Und da hat sich der Pastor für uns eingesetzt, der Superintendent, der wohnte damals noch in Belzig, dass ich doch Abitur machen kann."

Wer verliebt ist, will Zeit miteinander verbringen. Zeit, die für die Liebenden aus zwei Welten knapp war. Noch dazu in einer Zeit ohne Handy und Skypen… 

"Dann lief die Zeit ja ab, dann musste er zurück nach Amerika. Dann hatten wir uns immer geschrieben, und im Sommer `78 sind wir zusammen nach Ungarn in Urlaub gefahren, weil das war dann unproblematisch mit dem Hin und Her. Telefon hatte ich ja nicht, also auf die Briefe – und dann hab ich ja nachher erfahren, John konnte meine Schrift überhaupt nicht lesen. Das hat er aber nicht zugegeben… John musste dann ja wieder zurück nach Amerika, und in Ungarn, das war eigentlich ganz schön. Da hat er mir dann die Bilder geschickt, und dann dachte ich: Was mach ich jetzt? Trenn ich mich jetzt von ihm oder will ich, dass es weitergeht? Da hab ich, glaube ich, `ne Weile gebraucht. Dann haben wir uns nur geschrieben. Und dann auf einmal stand John, ich glaub, das war dann 79 oder 80, da stand er auf einmal und hat mich von der Arbeit abgeholt. Und da hab ich gedacht, ne jetzt ist es richtig. Jetzt machst du es."

"Als ich in Montana war – wir hatten fast ein Jahr nichts voneinander gehört – an meinem Geburtstag hab ich Babysitter bei meinem Freund gespielt, und das Telefon klingelte und es war meine Mutter und hat gesagt: Christiane hat angerufen zu meinem Geburtstag. Und an dem Tag hab ich alles in die Wege geleitet, dass ich wieder nach Deutschland kam, und wusste das: Ich gehe nicht mehr weg!"

"Also meine Eltern waren nicht begeistert, die haben gedacht, wenn jetzt die Tochter den heiratet und ausreist, dann sehen wir sie nie wieder! Ich hatte mich dann entschlossen, `n Ausreiseantrag zu stellen – das war dann im Oktober '81. Und dann wurde ich da einbestellt. Ich war da für `ne Karriere vorgesehen, da hat mich der Direktor reingerufen und hat mich da angesprochen, ob ich mir das richtig überlegt hätte, was meine Gründe wären, und wenn ich mich einmal entschieden habe, dann bleib ich dabei. Ich bin dann auch stur. Da hat er gesagt: Tut mir ja leid, er bedauert das sehr. Ich hätte immer gute Arbeit gemacht, aber diese Funktion als Gruppenleiterin kann ich nicht mehr wahrnehmen. Er muss mich meines Amtes entheben. Und dann wurden alle einberufen, dann wurde das mitgeteilt, und dann guckten die alle so. Und da sag ich:  Also ich bin jetzt hier kein Schwerverbrecher. Ich will ausreisen, weil ich heiraten will!"

Viele DDR-Bürger stellten damals Ausreiseanträge. Wer in der DDR zuhause war, verließ sein Land nicht mit leichtem Herzen. Der schweren Entscheidung, öffentlich einen Ausreiseantrag zu stellen, ging oft ein monatelanges Ringen voraus. Christiane hängt an ihrer Brandenburger Heimat – bis heute. Sie fährt häufig nach Reetz in "ihr" Dorf, das knapp zwei Stunden von Berlin entfernt liegt. Ihre Geschwister sind hier zuhause. Damals musste sie sich entscheiden – Liebe oder Familie. Was macht das mit einem Paar, das sich liebt, wenn klar ist, dass einer von beiden seine Heimat verlassen muss?

"Da hab ich mich auch `ne Weile mit abgequält. Irgend` ne Entscheidung musst du jetzt treffen: entweder für dein eigenes neues Leben oder für, dass du dein altes weiterführst, aber dann bleibst du eben allein. Und das wollt ich auch nicht. Und dann hab ich gedacht: Nee, ich bin sowieso bisschen risikofreudig, dachte jetzt, das willste jetzt mitmachen! Ich glaube, das hab ich mit mir ausgemacht, ja!"   

"Ich hab versucht, sie nicht unter Druck zu setzen. Für mich war es auf der anderen Seite ne völlig andere Geschichte: Sie war in ihrer Wohnung, sie war in ihrer Heimat, sie hatte ihre Arbeit und ihren Freundeskreis, und ich hing zwischen zwei Welten. Und ich würde sagen: sogar in drei Welten, weil ich bin hunderte Male durch die Mauer hin- und hergegangen, immer mitten in der Nacht in der Regel. Ich lebte nur dafür, dass ich über die Grenze könnte! Es war für mich eine permanente Ausnahmesituation. Mir wurde die Einreise auch öfter verweigert. Und ich musste wieder nach Hause. Manchmal bin ich einfach zum andern Grenzübergang, und dann ging ich rüber. Also es war ein großes Spiel."

Im Oktober 1981 stellte Christiane einen Ausreiseantrag. Kurze Zeit darauf wurde sie schwanger. Aus dem Spiel wurde Ernst. Denn nun trennte die Mauer nicht mehr bloß zwei, die sich liebten, sondern auch einen Vater von Mutter und Kind:


"Ich bin dann damals zurück zu meinen Eltern. Die haben mir geholfen: Wir sind mit den Sachen zurück aufs Land, und am nächsten Tag begannen schon die Wehen. Dann hat mich meine Schwester noch ins Krankenhaus gefahren in Belzig, und die hat dann auch `n Telegramm an John geschickt, dass also unsre Tochter geboren war. Das war dann auch noch missverständlich, denn sie hat dann geschrieben: Christine und Saskia sind wohlauf – da hat er schon gedacht, er ist Vater von Zwillingen geworden! Und dann auf einmal ging im Krankenhaus die Tür auf und da stand John, und da dacht ich: Was hat der sich denn jetzt erlaubt. Ich wusste schon, der war so n bisschen radikal… Und dann hat er kurz Saskia gesehen, naja. "

"Und ich bin da hingefahren, kam zum Krankenhaus, das war abgeschlossen mit einer Kette. Und ich stand da neben der Tür, dachte, nach dem langen Weg musst du versuchen, in das Haus reinzukommen. Ich bin um das Haus rumgegangen, bis ich eine offene Tür fand, und das war die Außentür von einer Abstellkammer für Putzmittel und Putzgeräte, und so bin ich da rein gekommen. Ich sah sie, ich hab sie auf`n Arm genommen, aber ich blieb ein Fremder die ersten acht Monate ihres Lebens mit Sicherheit. Also das bedauere ich noch heute, und das ist etwas, das man nicht ersetzen kann. Das war eine schwere Zeit: Jedes Mal, wenn ich gehen musste – und das war immer am gleichen Tag nach vielleicht sechs Stunden Besuch - war es hart. Ich hab sie sehr vermisst, die Kleine, muss ich sagen."

Am 9. Dezember 1982 durfte das Paar endlich heiraten. In Ost-Berlin geben sich John und Christiane vor einer kleinen Hochzeitsgesellschaft das Ja-Wort. Als Trauspruch wählte das Paar einen Vers aus dem 1. Korintherbrief: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Drei Monate später reiste das junge Paar aus. Im Gepäck die kleine Tochter. Am 28. Februar `83 hieß es Abschied nehmen. Die Maschine nach Amerika startete vom Flughafen Berlin - Schönefeld. Zurück bleiben Christianes Eltern und Geschwister. 


"Die standen dann da und haben gewunken und haben gedacht, das ist jetzt endgültig: die sehen mich demnächst nicht wieder. Bei mir waren da auch zwei Herzen in einer Burst: Dein altes Leben ist jetzt einfach weg, und jetzt kommt was Neues, Ungewisses. Du weißt nicht, was es bringt. Aber so ängstlich bin ich eigentlich nicht. Ich dachte, das wird schon werden!"

In Amerika versuchte die junge Familie Fuß zu fassen – und kehrte nach sechs Monaten wieder zurück nach Deutschland. Das zweite Kind war unterwegs. Die Familie zog ins West-Berliner Kreuzberg. Der Arbeit wegen. Und um der Familie von Christiane näher zu sein. Sechs Jahre später fiel die Mauer. John und Christiane Shreve stellten Antrag bei der Gauck-Behörde – auf Akteneinsicht. Mehr als hundert Seiten umfasst die vorliegende Stasiakte der beiden. Teile davon wurden vernichtet.

"Da haben wir dann einmal unser ganzes Privatleben nochmal nachlesen können. Die hatten jeden Brief geöffnet – egal, wem wir den geschrieben hatten – und Leute beschäftigt, uns zu beschatten. Wir haben einfach nur `n ganz normales Leben geführt, Autoreparatur, Kind krank – also der ganz normale, alltägliche Wahnsinn, aber nichts Besonderes. Und die hatten eben den Verdacht, dass John für den CIA spioniert – und die hatten den Verdacht, dass er für die DDR spioniert. Das war schon `ne schwierige Situation. Das Private ist politisch. Ich war vorher zwar auch so`n politisch informierter Mensch, aber ich war kein Klassenkämpfer. Aber als ich dann merkte, weil man einfach nur heiraten will – das ist ja nichts, was man gegen den Staat macht – und der schreibt dir vor, mit wem du leben sollst und so, also da hab ich die politische Lage auch anders betrachtet."

35 Jahre ist der Mauerfall nun her. Christiane will nach vorne schauen. Und doch ist die Enttäuschung von damals immer noch ein wenig in ihrer Stimme zu spüren:


"Ich wäre also durchaus bereit, auch zu verzeihen. Weil ich mir das auch vorstellen kann: Du wirst so unter Druck gesetzt: Deine Kinder, dein Mann oder so – weil der Staat so war – und dann hat man eben so was geschrieben, wo man wusste: Da passiert nichts, aber ich hab meine Ruhe… Die Menschen sind alle keine Helden, und ich selber bin auch kein Held gewesen. Der Staat hat ja nur mit Angst funktioniert. Wenn da jemand gesagt hätte: Du, die haben mich erpresst, und ich hab vielleicht was geschrieben und ich wollte dir nicht schaden, aber einfach aus Angst… das könnte ich auch verzeihen, aber in der ganzen Zeit ist da niemand auf uns zugekommen."

Die Liebe von John und Christiane hat gehalten. Gegen alle Widerstände. Die Mauer blieb ein kleines Stück durchlässig. Manche Liebe scheiterte an der Mauer. John und Christiane hatten Glück. 47 Jahre nach ihrer ersten Begegnung leben beide in einem freien Land – und können reisen: nach Amerika oder nach Reetz, in Christianes Heimatdorf. Ihre gemeinsame Geschichte hat John aufgeschrieben: für Kinder und Enkel. Damit die Geschichte der beiden – und die ganz große – nicht vergessen wird. Eine Liebe, die durch die Mauer ging.

"Zu unserer Silberhochzeit habe ich aus unserer Stasiakte zitiert: "Ein Offizier der Stasi kam zu dem Schluss: Es handelt sich nicht um eine ernsthafte Beziehung." Christiane wolle nur ausreisen und benützt mich dazu. Aber das war auf unserer Silberhochzeit. Die Stasi gab es schon lange nicht mehr, aber wir, "wir" gab es noch."

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik der Sendung:
1. Andreas Bourani, Hey, Refugium
2. Andreas Bourani, Hey, Ultraleicht
3. Andreas Bourani, Hey, Refugium
4. Andreas Bourani, Hey, Auf uns