Manche sind beschmiert, andere sind unversehrt und sehen aus wie aus dem Ei gepellt: die Bilder auf den Wahlplakaten. Sie haben auch nach der Wahl eine Botschaft.
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Jetzt stehen sie da wie bestellt und nicht abgeholt: die einen derangiert und abgerissen, verziert mit Hitlerbärtchen oder Clownsnase, die anderen unversehrt und mit strahlend-weißem Lächeln wie aus dem Ei gepellt: die Gesichter des Wahlkampfs. Ich stapfe jeden Morgen an den aufgestellten Plakaten vorbei - und empfinde Mitleid mit vielen. Ich gehöre zu den Menschen, die Fotos von sich selten mögen, auch dann, wenn andere sie toll finden: Mal sind die Haare zu kraus, die Nase zu groß, die Augen zu klein – in jedem Fall der Blick auf mich selbst zu kritisch. Schrecklich dann, wenn eins der Bilder schon den Weg ins Netz gefunden hat, wo es sich nicht einkassieren lässt.
Diese Bilder hier auf den Straßen sind überdimensional groß und bleiben stehen im grauen Wintermatsch. Wochen-, ja manchmal monatelang. Und nicht nur die Bilder, auch die Sprüche auf den Plakaten bleiben, prägen sich ein: Da präsentieren sich Kanzlerkandidaten als Hoffnungsträger, auch wenn sie längst schon verloren haben. Ein öffentliches Objekt der Schadenfreude für den politischen Gegner.
Noch dazu bleiben all die ungebetenen Kommentare stehen – quer und anonym auf die Gesichter geschmiert: Worte wie Lügner, Schwachkopf oder Volksverräter. Alle gehen dran vorbei. Jeder und jede kann es sehen. Auch die Kinder der Menschen auf den Plakaten, die Partnerin, Familie, Freunde müssen es sehen. Wer in die Politik geht, so heißt es, weiß, worauf er oder sie sich einlässt, muss das abkönnen. Auch, dass Dreck an einem kleben bleibt. Ganz ehrlich: Ich könnte das nicht. Mir täte das weh. Ich glaube auch: An niemandem perlt so etwas einfach ab. Keinen lässt so etwas unberührt.
Auch zu biblischen Zeiten mussten sich Menschen in politischer Verantwortung warm anziehen. Auch ohne Social Media-Kommentare und TV-Duelle. Sogenannte Gerichtspropheten zogen damals durch die Straßen und prangerten lautstark soziale Missstände und Ungerechtigkeiten an. Sie nahmen kein Blatt vor den Mund: Treuloser Haufen, Ehebrecher – so lauteten die Beschimpfungen von damals. Zitat: "Sie schießen mit ihren Zungen lauter Lüge und keine Wahrheit und treiben‘s mit Gewalt im Lande und gehen von einer Bosheit zur andern!" So wetterte der Prophet Jeremia vor rund 2500 Jahren in aller Öffentlichkeit.
Worte, die saßen. Nicht nur in den Ohren der Machthaber. Jeder auf der Straße konnte sie hören und: Jeder sollte sie hören und sich selber angesprochen fühlen. Denn auch dafür waren die Propheten da: Sie sollten den Finger in die Wunde und offen legen, was in der Gesellschaft schiefläuft – nicht um einfach draufzuhauen und die Verantwortungsträger "da oben" schlecht zu machen, sondern um zu zeigen, wie es anders geht und was jeder und jede Einzelne dazu beitragen kann. Sie traten auf, um Menschen daran zu erinnern, was eine Gesellschaft verbindet, was sie zusammenhält und trägt. Für Jeremia war das der Glaube an einen Gott, der für Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit eintritt. Tut ihr es auch! - so lautete seine Botschaft an alle.
Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Plakate nach der Bundestagswahl noch eine Zeit lang draußen stehenbleiben. Sie haben eine zeitlose Botschaft neben allen Parteiparolen, nämlich die: dass jeder – egal welcher Partei sie oder er angehört – zuallererst ein menschliches Gesicht trägt. Und jeder, der vorbei geht, eine Mitverantwortung dafür hat, wie sich das Zusammenleben in unserem Land weitergestaltet.
Es fängt bei den Worten an: Ich kann sie wie Pfeile abschießen oder damit Argumente austauschen. Ich kann Bosheiten raushauen oder Wertschätzung üben. Letztere muss tatsächlich geübt werden – gerade gegenüber Andersdenkenden. Es ist also gut, dass die Wahlplakate da draußen noch stehen: als stumme Propheten für mehr Anstand, Respekt und Menschlichkeit.
Es gilt das gesprochene Wort.
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