"Denk ich an Deutschland…", hat Heinrich Heine 1843 gedichtet. Unsere Autorin fasst ihre Gedanken für den Tag nach der Bundestagswahl in einen Psalm.
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"Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht…", dichtet Heinrich Heine im Jahr 1843. Er schreibt seine Nachtgedanken im französischen Exil. Es klingen aus den Zeilen zwei Seelen in einer Brust: die eine voller Sehnsucht nach Menschen in der Heimat, die andere voller Enttäuschung.
Als Jude hatte sein Deutschland den Dichter Hass und offenen Antisemitismus spüren lassen. Als romantischer Freigeist litt Heine unter der Enge und Unbeweglichkeit seiner Zeit und den Beharrungskräften der Restauration. Trotzdem blieb dieses Deutschland, so unfertig und unerfreulich es für ihn war, sein Land. Ein Ort, an dem er geboren und der ihm vertraut war. Die Heimat, wo die Mutter lebte, die er so lange nicht gesehen hatte. Diese Gefühle brechen sich in den Gedichtzeilen Bahn: eine Art Hassliebe, die ihn mit Deutschland untrennbar verbindet.
Das Gefühl schien anderen nicht unbekannt. Bis heute zählen die Nachtgedanken zu den bekanntesten Texten des Dichters. Ich stelle mir vor, wie Heine irgendwo dort in der Fremde nachts am Schreibtisch sitzt und sich trotz räumlicher Trennung nicht trennen kann von seiner großen Liebe: Deutschland. So ist das mit der Liebe: Solange man wach liegt und sich sorgt, liebt man immer noch weiter, wenn auch vielleicht enttäuscht und verzweifelt. Man kommt nicht los voneinander, hält fest an der Liebe wie in diesen Worten: Denk ich an Deutschland in der Nacht…
Viele solcher Gedanken werden in dieser Nacht durchs Land geflattert sein: bange und ängstliche, triumphierende und hoffnungsvolle, desillusionierte und enttäuschte. Nachtgedanken sind so: unvorhersehbar und flatterhaft. Sie kommen anders daher als die Ergebnisse von Meinungsumfragen, Politbarometern und Hochrechnungen. Sie überraschen einen. Sie sind vollkommen frei und ungefiltert. Sie steigen aus dem Unterbewusstsein auf und sind schonungslos ehrlich.
Nachtgedanken kann man nur alleine denken. Sie überkommen einen als Reaktion auf die Erlebnisse des Tages, sie ploppen an die Oberfläche und offenbaren tiefliegende Gefühle – auch die schambehafteten und verbotenen. Und selbst, wenn Nachtgedanken immer eine Spur düsterer sind als die Wirklichkeit bei Tageslicht betrachtet: Sie haben immer einen Grund. Sie werfen immer ein Licht in die Tiefe meiner Seele, so wie es biblische Psalmen tun: Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie finden existentielle Sprache für jede Befindlichkeit - auch für Gefühle, die verboten sind. Egal ob Rachegedanken, Jubel oder Schadenfreude, Hass oder Zorn, Angst oder Verzweiflung.
Ich denke ja, die meisten biblischen Psalmen wurden tatsächlich nachts geschrieben, allein irgendwo an einem Schreibtisch, ohne Zeugen, ohne Kommentare von anderen, ohne glättende Redaktion. Nachts, wenn diese Gefühle am stärksten sind. So klingen also meine Nachtgedanken von heute - mein Psalm nach der gestrigen Wahl:
Denk ich an Deutschland – dann längst nicht nur in der Nacht. Ich denke so oft an dieses Land, in dem ich so lange schon lebe und doch immer öfter fremd mich fühle. Trotzdem bleibt mein Herz daran hängen. Ich liebe es, dieses Land, manchmal beschämt und verzweifelt, manchmal auch ängstlich, wütend und enttäuscht. Ich hasse die Gereiztheit, die sich hier bei uns eingenistet hat, die Enge im Denken, die Rechthaberei, das immer schamlosere Mundwerk, das andere Meinungen niedermacht. Ich vermisse die Weite und Großzügigkeit im Denken, den Freigeist und die Schönheit der Sprache, die oft so kalt und unfreundlich klingt. Ich vermisse die Freude an der Vielfalt, den Optimismus, die tatkräftige Hoffnung. HERR, schenke Verständigung in die Becher wie Morgenkaffee. Vertreibe den Hass, schaffe Raum für Zukunft und Vertrauen.
Meine bescheidenen Nachtgedanken breite ich aus vor dir: Verwandele sie in Zuversicht - auch bei den Enttäuschten. Ich glaube fest daran: Wer sich sorgt, der liebt noch und sehnt sich nach dem andern. Heute ist ein neuer Tag. Mache dieses Land zu einem Zuhause für uns alle – auch durch mich.
Es gilt das gesprochene Wort
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