Visionen

Wort zum Tage
Visionen
01.07.2019 - 06:20
13.06.2019
Rebekka Müller
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Ich sitze an meinem Schreibtisch und sehe aus dem Fenster. Die Sonne scheint auf die gegenüberliegenden Häuser, die Blätter der Bäume draußen wehen leicht im Wind. Die Vögel zwitschern und machen damit den Autos auf der Straße Konkurrenz. Der Himmel ist blau und das alles macht mir gute Laune. Der Sommer bekommt mir eindeutig besser als der Winter, wenn mir alles grau und kalt erscheint, trotz Vitamin-D-Tabletten.

Ich bin im Dezember umgezogen. Weg aus dem Viertel, in dem ich die letzten sechs Jahre gelebt habe, hierher in einen anderen Teil der Stadt. Ich war glücklich, dass wir eine Wohnung gefunden hatten. Und tatsächlich hat die Wohnungssuche in Berlin viel mit Glück zu tun, vor allem als Studierende ohne wirkliches Einkommen. Und doch stand ich im Dezember in der neuen, leeren Wohnung und fühlte Panik in mir aufsteigen. Alles erschien mir kahl und trübe. Die Bäume draußen und die Häuser auf der Straße, die Wände und Räume in meinem neuen Zuhause. Die vertraute Gemütlichkeit meiner alten Wohnung war eingetauscht gegen meine winterliche Visionslosigkeit.

Aber ich war weder ohne Grund hier noch war ich allein, sondern endlich mit meinem Freund zusammengezogen. Dieser sah mein Gesicht, nahm mich in den Arm und grinste. „Keine Sorge, ich habe eine Menge Visionen für diese Wohnung! Das wird toll!“ Mit seiner Sicherheit kam auch mein Optimismus schnell zurück. Ich hängte eine Lichterkette über den Türrahmen und begann damit, mir die Zukunft auszumalen. Die eingerichtete Wohnung. Einen verschlafenen Kaffee am Morgen. Den ersten Frühling hier. Blühende Bäume und ein Eis in der Hand, Spaziergänge, neue Entdeckungen, kalte Getränke an lauen Abenden. Langsam kamen meine Visionen zu mir zurück. In meiner alten Wohnung hatte ich einige Jahre gelebt. Im Winter wusste ich, wie mein Viertel im Frühling, Sommer und Herbst aussehen würde. Diese Erinnerungen legten sich wie ein Filter über die winterliche Kälte. Und jetzt sammle ich hier neue Filter. Die Bilder des Frühlings haben sich schon eingenistet. Alles wurde rosa und weiß und hellgrün, die Luft voller Hoffnung. Die Bilder des Sommers kommen gerade dazu. Und im nächsten Winter werde ich vor meinem inneren Auge sehen können, welches Potential in der Umgebung bereitliegt. Ich brauche solchen Stoff und ein bisschen Hilfe, um Visionen zu entwickeln. Und manchmal frage ich mich, ob Gott eigentlich Visionen für mich hat. Sieht Gott den Frühling meines Lebens an und hat dabei schon Bilder im Kopf, wie es später mal aussehen wird? Oder ist da jemand ebenso gespannt wie ich in meinem ersten Jahr in der Wohnung, in der neuen Umgebung?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Rebekka Müller