Zeitenwende
"Wir erleben eine Zeitenwende." Der Satz des Bundeskanzlers hat gewirkt. Seitdem russische Truppen die Ukraine überfallen haben, bedeutet "Zeitenwende": Kriegsgefahr in Europa, massive Aufrüstung. Von "Zeitenwende" war allerdings auch im vergangenen Jahr schon oft die Rede. Da ging es um die Pandemie und den Klimawandel, um die Wiederkehr des Rechtsextremismus, die Rückkehr der Autokraten in immer mehr Ländern. Oh ja, es gibt zu Beginn der 20er Jahre im 21. Jahrhundert viele Gründe zu erschrecken. Das westliche Sicherheitsgefühl der vergangenen Jahrzehnte ist dahin. Die Zeitenwende steht unter dem Vorzeichen der Bedrohung.
Frühling ist es trotzdem geworden mit blühenden Osterglocken und Forsythien. In den Läden türmten sich wie immer die Schokoladenhasen und die Kaufhäuser haben all die Sachen bereitgehalten, die "das Osterfest perfekt machen", so hieß es jedenfalls. Ostern haben wir gefeiert, das Fest der Auferstehung - und da bekam das Wort Zeitenwende für mich doch wieder einen anderen Klang: Das Leben steht unter dem Vorzeichen der Hoffnung.
Die Macht gehört nicht mehr den Mächtigen
Aus tiefer Angst und Verzweiflung sind die Menschen, die Jesus folgten, aufgewacht und wussten: Sein Tod am Kreuz war nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang. Sein Weg ist nicht gescheitert, er wird immer weiter wirken, er ist mit uns. Die Mächtigen dieser Welt können uns nicht mehr beirren, wir schauen auf den Auferstandenen. So konnten sie aufbrechen in ein Leben, das nicht mehr von der Angst beherrscht war. Wie eine zweite Geburt haben sie das erlebt – eine Erfahrung, die für alle Menschen gelten sollte, die sich am auferstandenen Christus ausrichten, für alle, die wirklich Ostern feiern.
Wie neugeboren
Darum trägt der Sonntag nach Ostern den vielversprechenden Namen Quasimodogeniti, was übersetzt heißt: wie die neugeborenen Kinder. So, das Versprechen, dürften wir leben: ganz von vorn, vertrauensvoll, neugierig, unbelastet – voller Lebenskraft. Zum Sonntag nach Ostern gehört dann auch dieser Jubelruf aus dem 1. Petrusbrief: "Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten." (1. Petrus 1, 3)
Dabei konnten die Christinnen und Christen, an die der Apostel zu Beginn des 2. Jahrhunderts geschrieben hat, gewiss nicht auf ein gesichertes, unbedrohtes Leben hoffen. Sie waren vielen Anfeindungen ausgesetzt. Die "lebendige Hoffnung" konnte sich nicht auf positive Wirtschaftsdaten oder – noch wünschenswerter – stabile Friedensabkommen stützen. Sie war vielmehr eine Kraft, die sie widerständig machte in einer höchst ungerechten, gewalttätigen Welt. Wenn die meisten sich verkrochen, redeten sie frei, wenn alle von Furcht sprachen, machten sie Mut. Wo gehamstert wurde, gaben sie ab. Sie konnten als Menschen leben, die Hoffnung wecken.
Wer "wie neugeboren" ist, sagt der Apostel, darf vergessen, was man ihm eingeflößt hat an Vorurteilen und Konkurrenzdenken, an Selbstzweifeln und Sorgen. Wer wie neugeboren ist, kann sich nähren "von vernünftiger, lauterer Milch" (1. Petrus 2, 2) - von Gottes Freundlichkeit.
Nachösterlicher Seelenputz
Natürlich fühle ich mich nicht wie neugeboren am Sonntag nach Ostern. Aber ich bin doch froh, dass ich nicht steckenbleiben muss in all den Befürchtungen angesichts der Zeitenwende, die in den letzten Wochen beschworen wurde. Ich kann mich wieder der "lebendigen Hoffnung" zuwenden, der Kraft, die in meinem verhangenen Gemüt erst einmal die Fenster putzt, so dass es wieder heller wird drinnen und klarer der Blick nach draußen. Und es leuchtet mir ein: Ich sollte meinen Kopf wohl nicht nur mit allen möglichen Posts füttern, sondern nach der "vernünftigen, lauteren Milch" Ausschau halten, die ja überall fließt, wo das Lebendige blüht und wir einander zum Leben helfen.