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Die Welt verändern!
Hoffnungstheologie von Christoph Blumhardt
22.01.2023 08:35

 

Das 19. Jahrhundert geht seinem Ende entgegen: Deutschland versteht sich als stolzes Kaiserreich, Nationalismus und Militarismus sind erste Bürgerpflicht. Die evangelische Kirche ist dem Kaiser treu ergeben. Sie predigt Seelenheil und Untertanengehorsam, fast überall. Aber am Fuß der schwäbischen Alb, im kleinen Bad Boll lebt eine fromme Gemeinschaft, die dem Geist des Kaiserreichs trotzt – angeführt von Christoph Blumhardt. Über einen Zaubertrank verfügt er nicht, aber mit Asterix hat er doch den blonden Bart und den klaren Verstand gemein. Christoph Blumhardt ist es ein Gräuel, wenn Menschen meinen, der christliche Glaube sei vor allem für den persönlichen Trost und Halt im Leben da. Nein, sagt er: Wer an Christus glaubt, muss die Welt verändern wollen:                                                          
Vorwärts, ihr faulen Christen! Hinein und nicht hinaus! Nicht heraus aus der Welt!  ...… Hinein, sage ich Euch! Da ist Christus. (S. 340 Andacht 3.3.1900) Da mitten im Fleisch und Blut, da ist das Reich Gottes! Es ist kein Geisterreich, es ist Menschenreich!‘ (S. 130)                                                                                        

‚Ihr faulen Christen!‘ – So traut sich Blumhardt zu predigen. Vorwärts will er, weil er ans Reich Gottes glaubt, das auf der Erde wahr werden soll. Dieser leidenschaftliche Glaube lässt ihn seiner Zeit um gut 100 Jahre voraus sein: im Einsatz für Frieden und Menschenrechte, für soziale Gerechtigkeit und gegen die Ausbeutung der Natur. Er denkt demokratisch und global, wendet sich gegen Kolonialismus, Rassismus und Eurozentrismus – kurz, er hat all die Themen im Blick, die uns heute noch beschäftigen. Wie kommt er zu solchem Weitblick? Ich will es wissen und fahre nach Bad Boll. Da, wo Christoph Blumhardt einst als Kurhausdirektor wirkte, steht heute eine Evangelische Akademie. Ihr Direktor Jörg Hübner hat sich gründlich mit Christoph Blumhardt beschäftigt und eine Biografie über ihn geschrieben. Nun sitzen wir im Grünen und ich frage ihn: Was hat Christoph Blumhardt angetrieben? 

J. Hübner: Blumhardt lebt von der Allversöhnungslehre. Er lebt von der Überzeugung, dass Gott alles wieder gut machen wird, lebt von einer starken Hoffnungstheologie, die durch und durch sein theologisches Denken und sein Handeln prägt, …

Allversöhnung – mit dieser Erwartung ist Christoph Blumhardt im schwäbischen Pietismus groß geworden. Die Erlösung der ganzen Welt wurde im Hause Blumhardt in naher Zukunft erwartet. Schließlich hatte Christoph Blumhardt einen berühmten Vater. Dem war es gelungen, durch seelsorgerliche Begleitung eine psychisch kranke, junge Frau zu heilen. Das hatte im Umland eine Erweckungsbewegung ausgelöst: ‚Jesus ist Sieger!" - dafür stand die geheilte Gottliebin Dittus, so hieß diese junge Frau. Mit ihren Geschwistern blieb sie bei den Blumhardts. Sie bildeten den Kern der geistlichen Gemeinschaft, die bald von überall her die Menschen nach Bad Boll zog. Dort hatte Vater Blumhardt das Kurhaus erworben. Dort fuhr man hin, wenn man spirituelle Stärkung suchte. Vom Heilungswillen seines Vaters wurde Christoph Blumhardt stärker geprägt als vom Theologiestudium, das ihm gar nicht so zusagte. So übernahm er nach dem Tod des Vaters auch mit großer Umsicht die Leitung des Kurhauses.  Aber dann geriet er in eine Krise, die ihn zwang, die Gewissheiten seines Vaters in Frage zu stellen:                                                                      

J. Hübner: Die Familie Blumhardt war davon überzeugt Gott kommt wieder, in Jesus Christus kommt er wieder auf diese Welt, bevor einer der letzte der Dittus-Kinder stirbt. Aber nun sind die leider denn irgendwie alle gestorben und dann brach sozusagen über Christoph Blumhardt die große Katastrophe aus: Woran liegt das? Woran liegt das? Es sind alle Dittus-Kinder tot und Gott kommt immer noch nicht wieder. Das Reich Gottes ist immer noch nicht da – woran liegt das? Das hat ihn gequält und beschäftigt, in eine tiefe Krise hineingeführt, bis er sozusagen die Antwort gefunden hat, (…) die lautet: Wir Menschen hindern daran, dass Gott kommt. Wir hindern ihn daran, dass das Reich Gottes in dieser Welt Platz nimmt, weil wir sozusagen die Todeswelt mitten in dieser Welt immer wieder perpetuieren. Und daran müssen wir etwas verändern. Wir müssen aus dieser Todeswelt heraus, wir müssen in diese Welt das Leben hineinbringen.                                                                                                                   

Christoph Blumhardt ist nicht mehr jung, schon Anfang 50, als er nach langer Krankheit zu der Überzeugung kommt: Es reicht nicht, an besonderen Orten eine besondere Spiritualität zu pflegen. Es reicht auch nicht, für die Armen Suppenküchen einzurichten. Nein, es müssen die Verhältnisse in der Gesellschaft so verändert werden, dass alle Menschen gut und in Frieden miteinander leben können. Gottes Reich wird erst kommen, wenn die Menschen das Ihre dazu getan haben.           

J. Hübner: Also, das ist, glaub ich, das Besondere, dass er eben das auf die Spitze getrieben hat – diese Allversöhnungslehre durch und durch und auf die Gesellschaft bezogen hat. Er war davon überzeugt, wenn eben das Kreuz auf dieser Erde stand und Gott mit dem auferstandenen Jesus Christus diese Welt geprägt hat, als eine besondere Welt sie gewürdigt hat, dann kann es nicht egal sein, was mit dieser Welt passiert, dann kann es Gott nicht egal sein, wie wir miteinander umgehen. Es kann auch nicht recht sein, wenn wir mit der Natur so umgehen, wie wir’s jetzt tun.

Es ärgert ihn nun sehr, dass die Verkündigung der Kirche sich immer wieder auf das seelische Heil der Menschen bezieht, wo es doch um das reale Leben im Leib gehen müsste. Er sagt es mit Nachdruck:                                                                                      Das macht uns heidnisch, dass wir den Leib haben fahren lassen und die Religion auf das Seelische geht, damit sind wir Heiden geworden, dazu brauchen wir Christus nicht, dass wir im Himmel selig werden. (…) Der Jammer liegt im Leibe, und dazu ist Christus gestorben und auferstanden, dass das Leibliche der Erde gerettet werde und darauf liegt unsere Hoffnung. (Andacht 5. Juli 1896)                                           

Dass Erlösung auch den Leib meint, hatte im Kurhaus Bad Boll ja immer eine Rolle gespielt. Aber nun sollte es nicht mehr bloß um die persönliche Gesundung gehen, sondern um die Gesundung der Gesellschaft. Und so blickt Blumhardt über den idyllischen Kurort Bad Boll hinaus in die nahegelegene Industriestadt Göppingen auf das Elend der dortigen Arbeiterinnen und Arbeiter.                                                                                            
J. Hübner: Er kämpft für den Menschen, dass er in seiner Leiblichkeit genügend Möglichkeiten hat, gut und sehr gut zu leben. Anknüpfungspunkt war im ausgehenden 19. Jahrhundert die Situation der arbeitenden Frauen, dass viele eben zu lange arbeiteten und zu wenig Arbeitslohn bekamen. Dafür setzte er sich ein. Das verstand er sozusagen als Ausdruck eines Todes, der nach uns greift – einer Todesstruktur mitten in dieser Welt, sich dem zuzuwenden und zu sagen: Das kann nicht sein!          

Es ist nicht nur die Frage nach der sozialen Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihn umtreibt. Es geht ihm auch um die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Da schaut er mit seiner Leidenschaft für das Leibliche schon viel genauer hin als seine Zeitgenossen:
‚Es gibt Fabriken, wo Giftstoffe verbreitet werden, da ist es ärztlich nachgewiesen, dass die Menschen dabei zu Grunde gehen; aber darum kümmert sich kein Mensch, obwohl das Sünde ist gegen den Leib. …. Wenn wir unsere Geschäfte so treiben, dass es uns gleichgültig ist, ob jemand dabei stirbt, das ist Sünde. Es wird nur gefragt: Was ist Profit? Aber nicht: Was gehört zum Leben?   (133f)                             

`Durch Eisen und Blut’ – mit dieser Parole hatte Bismarck die deutschen Kleinstaaten ins Reich gezwungen – und begeistert waren sie dann alle in den deutsch-französischen Krieg gezogen. Jahr für Jahr wurde danach der Sedantag als Festtag des militärischen Triumphs in Deutschland gefeiert. Aber nicht so in Bad Boll. Christoph Blumhardt war schon im 19. Jahrhundert ein überzeugter Pazifist. 

Allversöhnung – Gottes kommendes Friedensreich – das konnte ja nur bedeuten:
jetzt schon für die Verständigung der Völker einzutreten und den elenden Nationalismus zu überwinden. Wenn am Sedantag überall der deutsche Sieg gefeiert wurde, predigte Christoph Blumhardt in Bad Boll so:                                           
Wie beschränkt wir politisch gesinnt sind mit Beziehung auf den Nationalbegriff. Das große Erdenrund mit seinen Völkern, was könnte das für ein Tummelplatz sein für richtige Menschen, und wie kleinlich haben wir es gemacht, indem wir uns als Tiger und Lämmer, als Füchse und Gänse verteilt haben auf Erden, da natürlich die Füchse die Gänse fressen…
Der Mensch ist dazu da, Fortschritte zu machen, und wenn man Frieden will, muss man auch mithelfen dazu und es auf eigenem Boden auf seine Art in Samen zu setzen suchen. So muss jeder, der Frieden will, auch Frieden besorgen, ein Friedensmensch sein.
(Andacht am Sedanstag 2.9.1895)

Überzeugte Friedensmenschen – die traf Blumhardt in der Kirche kaum an. Er sah: Die Kirche ist kraftlos, wenn es darum geht, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Der Fortschritt findet anderswo statt – und so wagte er einen Schritt, der zu seiner Zeit für einen Theologen schier unmöglich schien: Er wurde Mitglied der damals noch sehr religionskritischen Sozialdemokratischen Partei.

In der Kirche war man über ihn entsetzt – Blumhardt durfte sich nicht länger Pfarrer nennen. Von allen bürgerlichen Seiten schlug ihm heftige Kritik entgegen – manche hielten ihn für geisteskrank. Aber das focht ihn nicht an, war er doch zu der Überzeugung gelangt, dass Jesus selbst den Sozialismus gewollt hatte:
‚Aus dem Sozialismus scheint etwas von der Ordnung heraus, die ich seit Jahren erhofft habe. Ich bin überzeugt, es wird gehen, wenn es einmal eingeführt ist, dass jeder Mensch das Recht hat zu leben und als eine Persönlichkeit neben den anderen zu sein, ohne sich zu schinden und zu darben. Man muss es nur wollen. Der Gedanke ist da, wir wollen helfen, dass er groß wird.‘ (S. 153)     

Und das tat er dann auch, indem er im Jahr 1900 für den Württembergischen Landtag kandidierte und das Mandat in Göppingen tatsächlich gewann – eine Sensation, die ihn berühmt machte. Er wurde zum gefragten politischen Redner, aber auch zum weitsichtigen Realpolitiker. Da er die nationalstaatlichen Grenzen für überholt hielt, setzte er sich für den Freihandel ein, wollte aber zugleich die regionale Wirtschaft und Landwirtschaft durch Genossenschaften stärken. Daneben ging es ihm um die Verbesserung der Volksschulen: Dort sollte mehr Allgemeinbildung und weniger Religionsunterricht stattfinden. Und was ihm dann schließlich noch besonders am Herzen lag, war der Ausbau des regionalen Nahverkehrs.                        

Es mangelte Blumhardt nicht an Ideen, die realen Lebensverhältnisse zu verbessern und er tat das mit vollem Einsatz, bis dann die Enttäuschung kam, als auf dem Parteitag der SPD ein heftiger Flügelstreit ausbrach zwischen den revolutionär eingestellten Mitgliedern und den mehr reformorientierten, zu denen auch Blumhardt gehörte.                               

Nach dem heftigen Zank unter den Sozialdemokraten war Christoph Blumhardt desillusioniert, aber nicht entmutigt. Er zog sich aus der aktiven Politik zurück, blieb aber Mitglied der SPD. Jetzt waren es vor allem die freien Vereinigungen, die sich für Frieden und Menschenrechte einsetzten, zu denen er Kontakt suchte: Gemeinschaften, die nach seiner Überzeugung dem Reich Gottes den Weg bereiteten. Auf die Kirche kam es ihm da gar nicht mehr so an:                 

J. Hübner: Mitten in der Welt gibt es genügend Menschen, die sich füreinander und für Menschenrechte einsetzen, die sind wertzuschätzen und zu achten – die dürfen nicht verdammt werden im Sinn von: Die sind nicht kirchlich, die sind nicht richtig, die sind nicht auf dem richtigen Weg. Wieso eigentlich nicht? Sie kümmern sich um den Menschen, sie kümmern sich um die Zukunft – und wo das geschieht, ist sozusagen Gottes Geist schon mitten in den Menschen da – auch wenn die selber es möglicherweise gar nicht spüren

Blumhardt war nun kühn genug zu denken: Gott braucht die Kirche nicht. Was Gott braucht, sind Menschen, die gegen die Todesstrukturen auf der Erde angehen – da kommt es auf das religiöse Bekenntnis gar nicht an:                                            
‚Wir Menschen alle, die schwarzen, die gelben, die braunen und die weißen, wir Menschen alle, die Katholiken und die Protestanten, die Inder und die Chinesen mit ihren Religionen, wir Menschen alle sind die Herde auf der Weide Gottes.‘ (S. 242)     Und so interessierten ihn auch immer mehr die internationalen Verbindungen. Starken Anteil nahm er an der Arbeit seines Schwiegersohns Richard Wilhelm, der in China als Missionar arbeitete. Ihn ermutigte er, die Menschen nicht etwa zu bekehren, sondern ihnen mit dem Aufbau von Schulen und Krankenhäusern zur Selbstwirksamkeit zu helfen.

‚Das Schlimmste ist, wenn wir Christen immer die Leute anders machen wollen. Wo hat uns der liebe Gott gesagt, dass wir sollen die Leute bekehren? Das ist nirgends gesagt! Ich habe bloß in Jesu das Band des Friedens um die Leute zu schlingen. … Das ganze Werk Christi geht verloren mit der ewigen Unterscheiderei zwischen Frommen und Unfrommen. Wo hat das der Heiland getan?  (S. 69)                                                                                                                                   

So fragt Blumhardt und findet: Die Europäer sollten sich nicht immer einbilden, sie wären allen anderen Völkern überlegen:
‚Es sollte doch auch einmal eine solche Mission aufkommen, da die Missionare von den Heiden getrieben werden und nicht immer nur die Heiden vergewaltigt werden…  dass auch einmal wir Europäer lernen könnten und zu lebendigerem Wesen angespornt würden.  (S. 99)        

Christoph Blumhardt war seiner Zeit wirklich weit voraus – auch als postkolonialer Denker. Weit denken konnte er, weil er unbedingt glaubte – an den auferstandenen Christus, an die Wirklichkeit des Reiches Gottes, an Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Heute – mehr als hundert Jahre später – haben wir in Kirche und Gesellschaft wohl manches dazu gelernt. Vom Elan aber des Christoph Blumhardt, von seiner zupackenden Phantasie und Klarsicht müssten wir uns wohl erst wieder neu anstecken lassen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

Die Zitate von Christoph Blumhardt sind sämtlich übernommen aus:

Jörg Hübner, Christoph Blumhardt, Prediger, Politiker, Pazifist, Eine Biografie, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2019