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Sendung zum Nachlesen
Magda kann schon seit ein paar Jahren weder gut sehen noch gut hören. Die Welt nimmt sie in einem kleinen Lichtkegel wahr, der an den Rändern in viel Schwarz verwischt. Wie wenn in Kinofilmen manchmal am Ende das Bild in einem enger werdenden Kreis verschwindet.
Töne dringen nur in hohen Dezibel an sie heran. Sie bewegt sich darum in kleinen tastenden Schritten in der Stadt. Sie streckt jedes Mal die Hand aus, wenn Menschen mit ihr reden. Dann kann sie mit ihren Fingern einen Eindruck von ihrem Gegenüber ertasten.
In der Kirche setzt sie sich immer direkt vor den Lautsprecher. Manchmal steht sie auf, um sich die Leinwand mit der Präsentation der Liedstrophe aus der Nähe anzusehen. Denn nicht alle Strophen kann sie auswendig.
Magda kann sich weniger auf Laute verlassen und sie sieht nur einen kleinen Ausschnitt um sich herum. Ihr Tastsinn ist dafür stark ausgeprägt, sie tastet mit dem ganzen Körper. Auch nach innen: Tiefensinn nennt man das. Sie hat ein ausgeprägtes Empfinden für das, was in ihrem Körper vorgeht und wie er sich im Raum verhält.
Darum liebt Magda die Schweigemeditationen in ihrer Kirchengemeinde. In dem hellen Raum im Dachgeschoss kann sie sich jedes Mal hinsetzen, wo sie an dem Tag gerade will. Sie muss nicht überlegen, wo die Akustik am besten ist. Wenn das Schweigen losgeht, ist Magda voll in ihrem Element und alle machen mit. Dann konzentrieren sich alle auf den gleichen Sinn: ihren Tiefensinn. Und Magda ist nicht mehr darauf angewiesen, besondere Lösungen für sich zu finden. Sie ist Teil und alle verhalten sich wie sie. Für Magda ist das ein Feiermoment. So wie die Theologin Dorothee Sölle über den Feiertag gedichtet hat:
„Du sollst dich selbst unterbrechen.
Zwischen Arbeiten und Konsumieren
soll Stille sein und Freude,
zwischen aufräumen und vorbereiten
sollst du es in dir singen hören,
Gottes altes Lied von den sechs Tagen
und dem einen, der anders ist.“
Anders als die anderen – so kommt mir Magda vor, als ich sie das erste Mal in der Gemeinde erlebe. Erst als ich erfahre, dass Magda ihre Sinne anders gewichtet, geht für mich auf, was sie anders macht. Und ich freue mich für sie, dass sie einen Ort gefunden hat, an dem sie ihren Tiefensinn voll und ganz ausleben kann. Dort ist der Tiefensinn Trumpf und andere gewichten zumindest für eine Meditation lang ihre Sinne so wie Magda.
Es gilt das gesprochene Wort.
Anmerkungen zur Sendung:
- Dorothee Sölle – Leidenschaftliche Poesie: Publik-Forum Kalender, Oberursel 2017.