Wort zum Tage
Wo kommen Sie her?
06.05.2021 06:20
Sendung zum Nachlesen

„Wo kommen Sie her?“, fragt mich der Mann mit den gegelten Haaren und dem tätowierten Porträt von Bismarck auf der Wade. Meine Herkunft will er wissen, ob ich würdig bin, hier mit zu diskutieren. Er selbst diskutiert und hängt dabei die Meinungsfreiheit ganz hoch. Die Kuscheltiere und die Kinderschuhe sollen hier auf dem Marktplatz liegen bleiben! Das sei ein reiner Ausdruck der Sorge um die deutschen Kinder, die er selbst noch nicht hat. Mit einer Wegwerfgesellschaft oder mit Bildern, die an die Shoa erinnern, habe es nichts zu tun. Er und seine Leute werden das Zeug später dem Deutschen Roten Kreuz übergeben. Aber eins von den Flüchtlingskindern solle die Sachen nicht in die Hände bekommen.
Noch einmal will er wissen, von wo ich bin. Denn nur wenn ich von hier stamme, aus seiner Stadt, werde ich mit meiner Meinung ernst genommen. Oder ihm fällt doch etwas anderes ein, was ihm an mir nicht passt, um nicht gelten zu lassen, was ich sage. Ich sage nichts. Ich schaue nur. Meine Augen brennen. Mein Herz wummert. Eine Frau hat angefangen, die Ku-scheltiere in große Mülltüten zu verpacken. Sie und ich sind in der Unterzahl. Die Stimmung auf dem Marktplatz ist aufgeheizt, zunehmend aggressiv.
Trotzdem spricht diese Frau plötzlich aus, was ich nur denke, wenn ich den Mann anschaue: „Neonazi!“ Er regt sich tierisch darüber auf. Er will nicht abgestempelt werden. Er nicht.
Und ich frage:
War es eigentlich Absicht, Gott, dass Dein Kind Jude war? Dass er dunkle Haut und dunkle Haare hatte? Dass er ein Mann war? War das Absicht? Oder Zufall?
Ist es Deine Absicht gewesen, Gott, dass ich in den letzten Jahren der DDR geboren wurde, dass ich blaue Augen habe, dass ich Christin bin, und dass ich als Frau lebe, die eine Frau liebt?
Es ist Zufall; es ist mir zugefallen, als eine Möglichkeit unter vielen. Ich glaube: Es ist nicht Deine Absicht, dass wir uns selbst zuerst in Nationen, Ethnien, Geschlechter, Religionen ein-teilen. Und das Einteilen geht ja weiter. Wir bestimmen, dass es den gewaltbereiten Neonazi gibt. Wir bestimmen, dass es den Asylsuchenden gibt. Machen wir das mit Absicht? Will ich es so? Es ist ja Deine Absicht, Gott, dass wir am Leben sind, oder? Mit Deiner Absicht sind wir Deine Kinder. Und Du bist nicht zufällig unser Gott?
Wir, Deine Kinder, der Asylsuchende, der Neonazi, ich und Jesus – wir brauchen Deine Absicht. Deine zufallsfreie Absicht. Wie war die Frage: „Wo kommen Sie her?“ Von da, wo Sie auch herkommen. Von Gott.
 

Es gilt das gesprochene Wort.