Die Wunden, die der Krieg schlägt

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Die Wunden, die der Krieg schlägt
07.05.2022 - 10:00
09.05.2022
Angelika Obert
 

 

Auch ich war lange eine Feindin

„Jetzt werden wir jedenfalls sehr lange Feinde bleiben“, sagte der junge Ukrainer mit bedrückter Stimme, „ich werde bestimmt ein alter Mann sein, bevor das wieder anders wird.“ Es war noch ganz zu Beginn der russischen Invasion, als ich ihn im Radio hörte. Der Schmerz und die Weitsicht in seinen Worten berührten mich. Er hatte ja Recht: Mit der Feindschaft wird es nicht vorbei sein, wenn die Waffen endlich schweigen. Die Wunden, die ein Krieg schlägt, brauchen lange, um zu heilen.

Als deutsches Nachkriegskind habe ich das selbst erlebt: Ich war lange eine Feindin. Als ich nach der Konfirmation mit ein paar Freundinnen eine Fahrradtour durch die Niederlande machte, warfen die Kinder dort an der Pommesbude mit Steinen nach uns. In Israel ein paar Jahre später spuckte ein junger Mann vor mir aus, als er hörte, dass ich aus Deutschland kam. Und in London, wo ich als Studentin zu einer Party eingeladen war, wurde es 5 Uhr morgens, bis mir einer zuflüsterte: ‚I forgive you the second world war‘. Und wenn ich das alles auch gut verstehen konnte, selber fassungslos angesichts der deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus – es tat trotzdem weh, als Deutsche immer wieder eine Feindin zu sein. Ziemlich dankbar war ich darum bei der Fußball-WM 2006, dem Sommermärchen, weil es mir da so vorkam, als sei die Welt nun wirklich zu Gast bei Freunden. Ja – es dauert lange!

 

Die andere Erinnerung

Aber wenn ich nun, da sich der 8. Mai wieder einmal jährt, gründlicher nachdenke, erinnere ich mich auch: Es stimmt ja gar nicht, dass man mir den 2. Weltkrieg erst 1974 in London verziehen hat. Schließlich bin ich im Dezember 1948 in Berlin in einem sehr gut geheizten Zimmer zur Welt gekommen. Das war den amerikanischen Soldaten in Berlin-Dahlem zu verdanken, bei denen meine Großmutter putzte und von denen sie immer ein paar Briketts mit nach Hause bekam. Und dass ich dann auch gedieh, hatte wohl einiges mit dem Milchpulver in den Care-Paketen zu tun… Ich verdanke also Einiges diesen Menschen, die in meiner Familie nicht nur ‚die Deutschen‘ gesehen haben, sondern eben das, was sie auch waren: Mitmenschen in Not. 

 

Meine Hoffnung

Woran wird sich der ukrainische Student eines Tages erinnern, den ich im Radio gehört habe? Werden die Russen für ihn wirklich so lange Feinde bleiben? Auch die russischen Kinder, die jetzt gerade geboren werden?

Wir jedenfalls – vom Krieg verschont – sollten uns wohl davor hüten, das alte Feindbild von ‚den Russen‘ wiederzubeleben und sie alle miteinander für die Verbrechen ihrer Machthaber in Haft zu nehmen. Darüber vielleicht auch gern zu vergessen, an welche Verbrechen wir uns als Deutsche zu erinnern haben. 

Ja, ich glaube, dass es da, wo Völker Kriege anzetteln, auch eine kollektive Verantwortung des Gedenkens und der Sühne gibt. Trotzdem hoffe ich, dass es eines Tages mal ein Ende haben wird mit der Rede von ‚den Russen‘, ‚den Amerikanern‘, ‚den Chinesen‘ – ‚den Deutschen‘. Dass die Nationalität eines Tages nicht mehr die Kategorie sein wird, in der wir uns gegenseitig wahrnehmen. Schließlich leben wir trotz allen gegenwärtigen Rückfällen in einer Zeit der weltweiten Vernetzung. 

 

Schon der Apostel Paulus

Die große Hoffnung, dass wir uns über Völker-, Religions- und auch Konfliktgrenzen hinweg als Mitmenschen nicht aus den Augen verlieren, ist allerdings viel älter. Sie verbindet sich mit der nachösterlichen Zeit, in der wir morgen den Sonntag „Jubilate“ feiern. Denn so hat der Apostel Paulus die Auferstehung Christi ja verstanden:

Keine Barrieren mehr zwischen den Völkern, keine Festlegungen und Zuschreibungen, schon gar keine ewigen Verfeindungen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ - so tollkühn schreibt Paulus es im Brief an die Gemeinden in Galatien (Gal.3, 28).

Sind auch Freund und Feind ‚einer in Christus‘? Menschen sind sie jedenfalls allesamt.

09.05.2022
Angelika Obert