Im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen
Es ist unsere Studienfahrt Regensburg – Salzburg – Wien. Kurz vor dem Abitur. Wir sind in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen, 20 Kilometer östlich vom österreichischen Linz, angekommen.
Beim Gang durch das Lager werden wir immer stiller. Wir sehen die Fotos in den Baracken: Männer und Frauen abgemagert bis auf die Knochen ohne Decken. Sie siechen dahin. Schwere Arbeit erwartet sie in den Granitsteinbrüchen. Zu essen gibt es viel zu wenig. Wenn einer stirbt, verheimlicht sein Schlafnachbar das, solange es geht, und nimmt das für den Toten bestimmte Essen entgegen. (1)
Wir hören, was uns erzählt wird. Wir sehen die Gaskammer. Getarnt als Duschraum. Aus den Duschen kam aber kein Wasser. Sondern das tödliche Gas Zyklon B. Es ist erschütternd. Kaum jemand sagt etwas. Wir hören: „Jeder hier konnte wissen, was im Lager geschieht. Viele haben ja auch hier gearbeitet.“ Ich denke an zu Hause. An die Erzählungen der Großeltern. Wie sie über die Zeit im sogenannten „Dritten Reich“ gesprochen haben.
Und ich spüre noch immer deren Angst. Man hat sich arrangiert… Und ich denke an den Wald vor unserer Tür, in dem ich mit unserem Hund täglich meine Runden gedreht habe. Dort steht ein Mahnmal auf einer Lichtung in der Bittermark in Dortmund. 1945 wurden noch bis einen Tag vor der Besatzung durch die amerikanischen Truppen am 13. April auf dieser Lichtung und auf dem Eisenbahngelände zwischen Hörde und Berghofen etwa 300 Menschen ermordet – zwischen 7. März und 12. April. Es waren „Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion und deutsche Widerstandskämpfer, die aus dem Hörder Gestapokeller und der Steinwache in den Rombergpark und in die Bittermark verschleppt und dort ermordet wurden.“ (2)
Die Schüsse hallten durch die Wälder und Gassen. Alle müssen das gehört haben, dachte ich, wenn ich mit unserem Hund am Mahnmal unterwegs war. Ich höre doch auch zu Hause, wenn der Förster im Wald schießt. Aber ich stoße auf eine Mauer des Schweigens und der ausweichenden Antworten bei allen, die ich danach frage: Habt ihr denn nichts gehört?
Alles fängt mit einer verstörenden Erkenntnis an
Und spüre wieder diese diffuse Angst. Jetzt, wo ich in Mauthausen stehe und höre: „Jeder hier kann und muss es gewusst haben!“, ergreift mich ein kalter Schauer. Da merke ich voller Entsetzen: Auch ich hätte eine Wärterin hier sein können. Voller Angst. Voller eigenem Überlebenswillen. Das macht mich fertig. Und es wird mir immer bleiben. Diese Erkenntnis: Ich bin zum Bösen fähig – ob aus Feigheit, Überlebenswillen oder gar aus eigenem Antrieb. In der Bibel sagt Gott: „Des Menschen Herz ist böse von Jugend auf.“ Es kostet so viel Arbeit, das Böse in mir selbst aufzuspüren und es zu überwinden. Weil ich das weiß, weiß ich auch: Es wird den endgültigen Frieden nicht geben auf Erden.
Der Journalist und Publizist Christoph Dieckmann ist in der DDR aufgewachsen. Aufgewachsen mit Mahnmalen von Sowjetischen Soldaten, die die Deutschen von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit haben. 500 von ihnen sind damals aus dem Konzentrationslager Mauthausen geflohen und bei einer Hetzjagd umgebracht worden. Jetzt werden die, die als Retter gefeiert wurden, in der Wahrnehmung zu denen, die die Ukraine mit Krieg überziehen. Christoph Dieckmann meint: Wir dachten, dass es nach dem 2. Weltkrieg nie mehr so einen Krieg geben könnte. Dass es linear immer besser wird.
Frieden, der immer mehr Raum greift. Er ist dahin. Es scheint Christoph Dieckmann, der Pfarrerssohn ist und auch evangelische Theologie studiert hat, als sei sogar diese Hoffnung dahin. Eine Illusion? Ist es nicht doch so, dass die Geschichte bei der übernächsten Generation in Vergessenheit gerät? Dass erneut Gewalt auf Frieden folgt?
Festhalten am Regenbogen
In der Bibel wird erzählt: Gott weiß um das Böse in jedem menschlichen Herzen. „Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ (1. Mose 8,21) Und gleichzeitig verspricht er mir ein neues Herz, einen neuen Geist. Und den brauche ich auch. Um mich zu erneuern, zu erkennen, wo ich auf bösem und falschem Weg bin. (Ezechiel 36,26) Und Gott hat noch etwas anderes getan. Er hat den Kriegsbogen, die Waffe unserer Vorfahren, in den Himmel gehängt. Als Regenbogen erinnert er mich daran: Du kannst Frieden machen. Doch was ist, wenn Friedenmachen dem bösen Nachbarn nicht gefällt? Muss ich mich dann nicht verteidigen? Ja, vielleicht. Doch ich muss wissen: Ich mache mich dann ebenfalls schuldig. Der wahre Friede ist nicht mit Gewalt zu haben, sagt Jesus. An diesem Punkt frage ich wie Christoph Dieckmann: Mutet Gott uns nicht zu viel zu? Sind wir in eine ausweglose Welt gestellt? Was ist mit den Versöhnungsinitiativen von Kirchen und Staaten, die jetzt scheinbar ganz umsonst waren und sind? Ich kann mich da nur an diesem Regenbogen festhalten. Ja, doch, es kann immer besser werden, als es ist. Gott kann Menschenherzen wenden. Er möge es doch bitte tun. Damit werde ich ihm weiter in den Ohren liegen. Das Ohr an meinem Herzen und mein Herz offen für andere Menschenkinder – so fremd sie mir auch sind oder so feindlich.
( 1 ) https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Mauthausen
( 2 ) https://de.wikipedia.org/wiki/Mahnmal_Bittermark
( 3 ) https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/russlandbild-ostdeutschland-dieckmann-100.html