Gemeinfrei via unsplash / Richard Jaimes
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31.12.2022 09:00

Diese Jahres-Wende in der so von Krisen und Krieg geprägten vielzitierten „Zeiten-Wende“ erscheint mir sehr besonders. Aber wenn ich lese, wie der Liederdichter

Paul Gerhardt in seiner Zeit, im Dreißigjährigen Krieg, einen Jahreswechsel beschrieben hat, kommt mir das bekannt vor: „Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern, wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen, durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken.“ In allen Schrecken und Plagen, zitternd und zagend, wendet sich Paul Gerhardt an Gott: „Ach, Hüter unsres Lebens, fürwahr, es ist vergebens mit unserem Tun und Machen, wenn nicht dein Augen wachen.“ (Evangelisches Gesangbuch 58, 2.3.6)

Die Menschen im Blick

Ja, auch unsere Pläne - so schnell können sie über den Haufen geworfen werden.
Unser Tun und Machen – so wenig nachhaltig ist es. Und auch wenn gut gemeint, so doch oft nicht wirklich gut. Da hilft es, wie der Liederdichter darauf zu vertrauen, dass Gott im Himmel seine Menschenkinder im Blick hat. In dem alten Choral klingt die neue Jahreslosung an, das biblische Motto, das Christinnen und Christen im Jahr 2023 begleiten und inspirieren soll: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ (1. Mose 16,13)
Bereits vor zwei Jahren wurde dieses Bibelwort von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen aus vielen Vorschlägen als Jahreslosung 2023 ausgewählt. Selten war man sich in der ökumenisch bunt zusammengesetzten Delegiertenrunde so schnell einig. Und in der Tat, dieses Wort passt sehr in die Zeit und trifft die Sehnsucht, die so viele Menschen empfinden: wahr-genommen werden mit den eigenen Bedürfnissen, Sorgen und Ängsten. Sehen und gesehen werden.

Offenes Interesse

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Das Bibelwort steht im Alten Testament und ist dort das Bekenntnis der von Gott vor dem Tod geretteten Sklavin Hagar. Ihre dramatische Geschichte ist nachzulesen im 1. Buch Mose, Kapitel 16 und 21. Es ist ein Wunder, dass sie gefunden wird in der Wüste. Vom Allerhöchsten selbst. Von seinem Engel. Der spricht sie an, mit ihrem Namen. Er stellt ihr diese schlichte, aber für sie ungewohnte Frage: „Hagar, woher kommst du?“ Bis jetzt war sie in der Geschichte nur die namenlose Sklavin. Jetzt wird sie zur Person. In ihrem Namen klingt ihre Lebensgeschichte durch: „Hagar“ kommt aus dem Arabischen, bedeutet „fremd, die Fremde“.
So an-gesehen, an-gefragt zu werden – wie befreiend für die Fremde auf der Flucht!
Wertgeschätzt! Augenhöhe! Offenes Interesse: Wer bist du? Woher kommst du? Hagar erlebt, was die Jahreslosung 2023 festhält: Gott sieht dich. Du bist wer. Hast einen Namen und eine eigene Geschichte. Das tut gut. Auch heute. Auch mir.

Wo geht’s hin?

Es fällt beim Lesen nicht gleich auf. Aber die von der Flucht ermattete Hagar antwortet nur auf den ersten Teil der Frage, die der Gottesbote ihr stellt: „Woher kommst du?“ Den zweiten Teil – „Wohin gehst du?“ – überhört sie. Aber was hätte sie auch antworten sollen? Nur weg will ich, nur weg. Fliehen ohne konkretes Ziel. Vielleicht Richtung Ägypten? Ach, egal…

Ganz ähnlich – Fluchtgedanken heute: Nur raus aus diesem miefigen Ort, aus dieser beengenden Beziehung, aus diesem unbefriedigenden Job. Egal wohin, zu wem, zu was. Nur weg… Die Frage „Wohin gehst du?“ ist auch heute nicht einfach. Was ist mein Ziel, mein Plan – beruflich, beziehungsmäßig, fürs Leben überhaupt? „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ Diese typische Coaching-Frage kann auch eine Gedankenschleife sein in schlaflosen Nächten. Und Angst machen. Wohin geht mein Weg?

Fäden in die Gegenwart

Hagars Geschichte ist ein kleiner Beitrag zu den großen Fragen, mit denen Menschen zu allen Zeiten ringen: Angesichts von übermächtigem persönlichem und weltweitem Leid – wo ist dieser Gott, der uns sieht? Was zählt in grausamer Realität das Bekenntnis zu dem Gott der Freiheit und des Friedens? Oder ganz schlicht: Lohnt es sich, Gott zu vertrauen?

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“  Von Hagars Bekenntnis aus spinnen sich Fäden bis in die Gegenwart. Die Jahreslosung 2023 eröffnet spannende, hoffnungsvolle Perspektiven für uns Menschen abrahamitischer Religion – Juden, Christen, Muslime: Als unterschiedlich an den Einen Gott Glaubende einander kennenlernen. Gemeinsamkeiten entdecken. Geschwisterlich den Frieden suchen. Denn Gott ist ein Gott, der auf alle seine Kinder sieht.

 

(Mehr zur Jahreslosung in: Ulrike Greim, Tobias Petzoldt, Andrea Schneider, Du bist ein Gott, der mich sieht. Worte und Gedanken für ein ganzes Jahr, edition chrismon 2022)