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Am ersten Freitag im Juli des Jahres 1862 ruderten zwei Männer in Begleitung von drei kleinen Mädchen mit einem Boot die Isis abwärts, einen schmalen Flußarm im Oberlauf der Themse. Während sie so gemächlich dahinruderten, kam Langeweile auf. In dieser Situation entstand aus dem Stegreif die sonderbare Erzählung von einem kleinen Mädchen namens Alice, die wundersame Abenteuer unter der Erde und in der Welt der Tiere und Fabelwesen erlebt. Besonders jene Episode hatte es den Mädchen angetan, in der Alice die Tiere im Teich trifft, mit ihnen ans Ufer schwimmt und alle zusammen schließlich beratschlagen, wie sie am schnellsten wieder trocken werden. (Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 46)
So beschreibt eine Biographie von Lewis Carroll den Auslöser für sein überaus erfolgreiches und bis heute gern und viel gelesenes Buch „Alice im Wunderland“. Charles Lutwidge Dodgson, wie Carroll mit bürgerlichem Namen hieß, hatte mit einem Kollegen eine Bootsfahrt mit den drei Töchtern des Dekans des Christ Church College in Oxford unternommen. Bereits zwei Wochen zuvor waren sie so unterwegs gewesen und dabei in einen schweren Regenguss geraten. Und so gefiel es den Mädchen, Lorina, Edith und Alice, dass Carroll daraus eine Geschichte machte. Im Buch kommt sie im dritten Kapitel vor:
Die Gesellschaft, die sich nun am Ufer versammelte, bot einen traurigen Anblick. Die Vögel ließen die nassen Flügel über den Boden schleifen, und den Vierbeinern klebte das Fell am Leibe. Alle tropften, froren und machten verdrießliche Gesichter. Zuerst wurde natürlich die Frage erörtert, wie man so schnell wie möglich wieder trocken werden könne, und schon bald fand Alice es ganz selbstverständlich, daß sie so vertraulich mit den Tieren sprach, als wären es uralte Bekannte.
(Lewis Carroll: Alice im Wunderland, S. 37)
Die kurzzeitig empfundene Vertrautheit weicht schnell Irritation und Befremden. Denn die Tiere gehen nicht nur merkwürdig mit der Sprache um, sie verhalten sich auch seltsam. So wählt die Maus, zutiefst überzeugt davon, dass das funktioniert, einen denkbar kuriosen Weg, die durchnässte Gesellschaft zu trocknen. Sie verlangt, dass sich alle setzen und ihr zuhören und sagt:
Ich überschütte euch jetzt mit dem trockensten Wissensstoff, den ich kenne. Ruhe bitte, ich beginne: Wilhelm der Eroberer, dessen Unternehmen durch den Papst begünstigt wurde, unterwarf sich innerhalb kurzer Zeit die Engländer, die keine Heerführer besaßen und sich in weitestem Maße an widerrechtliche Aneignungen gewöhnt hatten. Edwin und Morcar, die Grafen von Mercia und Northumbria …
(Lewis Carroll: Alice im Wunderland, S. 38)
Und so weiter. Natürlich wird so niemand trocken. Nur gelangweilt. Erst ein regelloses Durcheinanderrennen aller, das ein Pelikan lrennen“ nennt, lässt die Gesellschaft trocknen. Noch viele solche Absonderlichkeiten erlebt Alice im Wunderland. Carroll hat dabei dem kindlichen Spaß am vordergründig Unsinnigen Raum gegeben. Zugleich hat er über zahlreiche Spiele mit Sprache, Logik, Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit für Verwirrung gesorgt. Der überregulierten, streng moralisierten und zugleich die Vernunft überbetonenden Welt seiner Zeit hat er damit ein Schnippchen geschlagen.
Charles Lutwidge Dodgson, der sich als Künstler den Namen Lewis Carroll gab, wurde 1832 in einem anglikanischen Pfarrhaushalt geboren. Als drittes von elf Kindern und erster Sohn. Er war kaum ein Jahr alt, als wieder eine Schwester zur Welt kam. Die Aufmerksamkeit der Mutter für ihn wurde so empfindlich verringert. In seinen ersten fünf Lebensjahren der einzige Junge zwischen vier Mädchen, musste er früh eine Erwachsenenrolle übernehmen. Eine Konstellation, die ihn überforderte und seelische Verwirrung auslöste. Das sensible Kind richtete sich im Pfarrgarten und in den Räumen des Pfarrhauses eine Phantasiewelt ein, schrieb Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke und führte sie vor den Geschwistern auf, erdachte Spiele nach strengen Regeln. Sein Vater, der Pfarrer, war für Charles bewundertes Vorbild, die Beziehung aber eher sachlich-nüchtern. Bis zu seinem elften Lebensjahr unterrichtete er den Sohn und erkannte seine große mathematische Begabung. Charles studierte dann auch neben Theologie und antiker Literatur Mathematik in Oxford. Und wurde dort mit 23 Jahren Tutor für Mathematik. Über seine erste Erfahrung schrieb er an seine Schwestern:
Mein erster Schüler hat bereits mit mir zu arbeiten begonnen, und ich möchte Euch eine Beschreibung geben, wie die Stunde verläuft. Am wichtigsten ist es, wißt ihr, daß der Tutor würdevoll ist und gehörigen Abstand vom Schüler wahrt und daß der Schüler so klein wie möglich gemacht wird. Sonst ist er nicht demütig genug, wißt ihr. So sitze ich also in der äußersten Ecke des Zimmers; vor der Tür (die geschlossen ist) sitzt der Diener; vor der äußeren Tür (ebenfalls geschlossen) sitzt der Unter-Diener; eine halbe Treppe tiefer sitzt der Unter-Unter-Diener; und draußen im Hof sitzt der Schüler. Die Fragen werden vom einen zum anderen gebrüllt, und die Antworten kommen genauso zurück - es ist ziemlich verwirrend, bis man sich daran gewöhnt hat.
(Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S.33)
Hier zeigt sich, satirisch überzeichnet, Charles Dodgsons lebenslanges Problem: Er kommt mit Gleichaltrigen, mit Erwachsenen nur selten gut zurecht. Eine seit der Kindheit bestehende Neigung zum Stottern verstärkt das noch und ist einer der Gründe, dass er nur die niedere Weihe eines Diakons erhält und nicht zum Priester geweiht wird. Sechsundzwanzig Jahre unterrichtet er oft wenig motivierte Studenten am Christ Church College der Universität Oxford in Mathematik. Schreibt Bücher über Mathematik und über Logik. Sie sind auch ein Versuch, den Stoff anschaulicher zu vermitteln. Immer spielerischer geht er dabei vor, trägt groteske- und Nonsens-Elemente ein. Sein Buch „Euclid und seine modernen Rivalen“ gestaltet er in Dialogform als Theaterstück. Im Vorwort erklärt er dazu:
So soll es weniger langweilig und auch für Nicht-Wissenschaftler besser verständlich werden. Ich meine, daß ich es nicht für nötig erachtet habe, den ernsten Ton beizubehalten, den wissenschaftliche Autoren üblicherweise anschlagen, der irgendwie als ein „Schicksal“ angesehen wird, das untrennbar mit der wissenschaftlichen Unterweisung verbunden ist.
(Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, Ss. 37 – 38)
So wenig gut Charles Dodgson in der Regel mit Erwachsenen zurechtkommt, so gut versteht er mit Kindern umzugehen. Er ist in der Lage, sich auf sie und ihre Welt einzulassen, ersinnt Geschichten für sie, fördert ihre Phantasie und ihr Denkvermögen mit logischen- und Sprachspielen und Rätseln. Und schreibt ihnen Briefe, die später unter dem Titel „Briefe an kleine Mädchen“ veröffentlicht werden. Unter den Mädchen, zu denen Charles Dodgson Kontakt pflegte, waren die drei Töchter des Dekans des Christ Church College: Lorina, Edith und Alice Liddell. 1856 lernte er sie kennen.
Im selben Jahr legte er sich, nachdem er einige Gedichte veröffentlicht hatte, seinen Künstlernamen Lewis Carroll zu. Und er begann zu fotografieren, erfolgreich und in hoher ästhetischer und künstlerischer Qualität. Er fotografierte auch Alice, zu der er ein besonders herzliches Verhältnis hatte. Häufig lud er sie und ihre Schwestern in seine Wohnung im College ein. Kurz vor ihrem Tod schrieb Alice Liddell ihre Erinnerung daran nieder:
Wir besuchten ihn mit unserer Kinderfrau in seinen Räumen. Immer wenn wir dort waren, saßen wir auf dem großen Sofa, er zwischen uns. Dabei erzählte er Geschichten und illustrierte sie mit Bleistift oder Tusche, während er weitersprach. Wenn wir richtig glücklich und von den Erzählungen begeistert waren, setzte er uns gewöhnlich in Positur und machte eine Aufnahme von uns, bevor die gute Stimmung wieder vorbei war. Er schien eine unendliche Anzahl solch wunderbarer Erzählungen zu kennen. (Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 48 – 49)
Für die berühmteste dieser Geschichten nannte Lewis Carroll die Protagonistin, nach Alice Liddell, Alice. Die handschriftliche Fassung, von ihm selbst illustriert, hieß noch „Alices Abenteuer im Untergrund“. Carroll überreichte sie Alice Liddell im November 1864 mit der Widmung: „Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“. Im Jahr darauf, wiederum im November, bestens geeignet, als Weihnachtsgeschenk gekauft zu werden, erschien das Buch dann unter dem bekannten Titel „Alice im Wunderland“, illustriert von John Tenniel.
Eine Pille macht dich größer, eine macht dich klein, singt Grace Slick von Jefferson Airplane im 1967 entstandenen Popsong „White Rabbit“, „Weißes Kaninchen“. Angespielt wird hier auf die zweite Szene aus „Alice im Wunderland“. Nachdem Alice einem sprechenden weißen Kaninchen mit Weste und Taschenuhr in seinen Bau gefolgt ist, landet sie in einem Saal, in dem auf einem Tisch eine Flasche mit der Aufschrift „Trink mich!“ und unter dem eine Kuchendose mit der Aufschrift „Iss mich!“ stehen. Vom Trank wird sie kleiner, vom Kuchen größer. Solche Größenveränderung erlebt sie noch mehrfach.
Auch die Wunderlandwelt wandelt sich stets: Figuren nehmen neue Eigenschaften an oder das Umfeld ändert sich gänzlich. All das verwirrt, und Alice ist sich ihrer selbst bald nicht mehr sicher. Als eine blaue Raupe sie fragt, wer sie sei, entgegnet sie:
„Ich weiß, wer ich war, als ich heute morgen aufstand, aber ich glaube, daß ich mich seitdem mehrfach verwandelt habe.“ „Was meinst du damit?“ fragte die Raupe streng. „Erkläre dich deutlicher!“ „Ich fürchte, daß ich mich nicht erklären kann“, erwiderte Alice. „Denn sehen Sie, ich bin nicht ich.“ „Das sehe ich nicht“, stellte die Raupe fest. „Bedauerlicherweise kann ich das nicht klarer ausdrücken“, sagte Alice sehr höflich, „denn ich verstehe mich nicht mehr; zudem ist es reichlich verwirrend, an einem einzigen Tage so viele verschiedene Körpergrößen zu erleben.“ (Lewis Carroll: Alice im Wunderland, S. 70)
Ohnehin verunsichert, wird Alice immerfort von Tieren, Menschen oder lebenden Spielkarten wie eine dumme Schülerin streng und grob examiniert. So auch von der falschen Suppenschildkröte und vom Greif. Alice wehrt sich im Streit darüber, wer von ihnen eine gute Schule besucht hätte. Schildkröte und Greif nennen für ihre Schulzeit im Meer die Fächer: Laternisch und Grimassisch, Lehnen und Schreiten. Und: Zusammenquälen, Abmühen, Kahldehnen und Bruchlächeln. In diesen parodistischen Umschreibungen der Grundrechenarten wird der Schulalltag der viktorianischen Zeit aufs Korn genommen. Der Greif befiehlt Alice schließlich, ein ihr vertrautes Gedicht aufzusagen. Noch verwirrt von einem Unsinnslied, das Greif und Schildkröte zu ihrem Lieblingstanz, der Hummerquadrille, gesungen haben, sagt sie stattdessen von einem Hummer:
Auf trockenem Sande verspottet er dreist
den Hai, ohne Angst, daß der Hai ihn verspeist.
Doch schwimmt er im Wasser, von Haien umringt,
wie schüchtern und scheu seine Stimme dann klingt!
(Lewis Carroll: Alice im Wunderland, S. 161)
Was Alice hier wider Willen erdichtet hat, erzählt vom kindlichen Erleben im viktorianischen Zeitalter. Abseits vom Einflussbereich der strengen gesellschaftlichen Normen - dafür steht der trockene Sand am Meeresufer bei Ebbe -, kann der Hummer sich freier fühlen und sogar die Hüter der Moral und des Verhaltens verspotten. Aber mit der Flut kommen sie zurück, und im Meer ist der Hummer ihnen wieder ausgeliefert. Sein Ausbruchsversuch, der auch das Bemühen um eigenes Leben und eigene Sprache ist, verstummt und verkümmert. Alice steht zwischen der Angst, im Sinne der Erwachsenenwelt zugerichtet zu werden, und dem Versuch des Erwachsenwerdens. Wenigstens dem, eigene Schritte zu gehen und Neues zu erleben. In der Wunderwelt kann Alice das durchaus. Freilich immer im Kampf mit der Verwirrung des Sinns und der Auflösung der Sprache.
Alice’ Abenteuer kulminieren nach einem Krocketspiel mit lebenden Spielkarten, bei dem Igel die Kugeln und Flamingos die Schläger sind, in einer Gerichtsverhandlung gegen den Herzbuben. Ein sinnfreies Gedicht soll seine Schuld beweisen. Aber Alice, die gegen Ende immer mehr wächst, wirft den Bann der Wunderwelt von sich, indem sie ruft:
„Wer das Gedicht deuten kann, der kriegt von mir einen Schilling!“ Sie war in den letzten Minuten so groß geworden, daß sie sich nicht mehr scheute, dem König ins Wort zu fallen. „Nach meiner Meinung ist der Sinn gleich Null.“ „Sollte es wirklich keinen Sinn haben“, sagte der König, „dann spart uns das viele Scherereien, weil wir erst gar nicht nach einem Sinn zu suchen brauchen.“ (Lewis Carroll: Alice im Wunderland, Ss. 186 - 187)
„Jetzt“, sagte er und gab mir eine Apfelsine, „sag mir zuerst, in welcher Hand du sie hast.“ - „In der rechten“, sagte ich. „Nun“, sagte er, „geh dort hinüber und stell dich vor den Spiegel und erzähle mir, in welcher Hand das kleine Mädchen, das du dort siehst, sie hält.“ Nachdem ich einen Augen-blick überrascht hingeschaut hatte, sagte ich: „In der linken Hand.“ - „Genau“, sagte er, „und wie erklärst du dir das?“ Ich konnte es nicht erklären, aber da ich sah, daß eine Lösung von mir erwartet wurde, wagte ich es: „Wenn ich auf der anderen Seite des Spiegels wäre, wäre dann die Apfelsine nicht immer noch in meiner rechten Hand?“ Ich erinnere mich noch an sein Lachen. „Gut gemacht, kleine Alice“, sagte er. „Das war die beste Antwort, die ich bisher gehört habe.“ (Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 82)
So erinnerte sich eine weitere Alice, Alice Raikes, als alte Frau an den Auslöser für die Nachfolgeerzählung von „Alice im Wunderland“ unter dem Titel „Alice hinter den Spiegeln.“ Carroll hatte sie im Sommer 1868 kennengelernt und nach der Begegnung seine Geschichte entworfen. Weihnachten 1871 erschien sie. Auch sie wurde ein Erfolg. Gespickt mit Parodien auf bekannte Gedichte und Kinderreime, vor allem mit logischen Rätseln und Spielen, ist „Alice hinter den Spiegeln“ wie ein Schachspiel aufgebaut, bei dem Alice zunehmend die Regeln bestimmt und am Ende den Schwarzen König besiegt. Ganz ähnlich, wie es auch Alice im Wunderland zum Schluss gelingt, den verwirrenden Zauber zu brechen.
Dem Autor Lewis Carroll oder Charles Lutwidge Dodgson erging es anders. In seinem Roman „Sylvie und Bruno“ veranschaulicht das eine Szene, in der Bruno seinen Vater fragt, ob er von den seltsamen, aber gerade deshalb attraktiven Früchten eines Baumes essen dürfe:
„Sicher, mein Kind, dann wirst du erfahren, wie es um das Vergnügen steht.“ Doch die Enttäuschung ist groß, weil Bruno die Früchte nicht schmecken kann. „Sind alle Früchte so, Vater?“ mischt sich Sylvie ein. „Für dich schon, Liebling, denn du gehörst nicht zu dem Elfland - noch nicht. Aber für mich sind sie echt!“ (Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 91)
Bruno erlebt, was der Autor als Kind erlebte: Statt mit ihm zu sprechen und auf sein Problem einzugehen, spricht der Vater mit der Schwester darüber und schließt ihn so aus. Obgleich er den Vater bewunderte und die Mutter idealisierte, fühlte sich Charles Lutwidge Dodgson - unter der Übermacht der stärker beachteten Schwestern - von den Eltern verlassen. Erholt hat er sich davon nie. Zeitlebens sperrig und wenig begabt für die Kommunikation mit Erwachsenen, sehnte er sich in die Kindheit zurück, aber in eine idealisierte, die er selbst nicht erlebt hatte. Kind zu bleiben, das war Lewis Carrolls unerfüllbarer und unglücklicher Wunsch. Sein Ausweg: die Freundschaft mit Mädchen im kindlichen Alter zwischen fünf und zehn Jahren. Sie waren nicht nur mit Geschichten und Geschenken, Spielen und Briefen umworbene Wesen. Sie waren auch Motiv für den begabten Fotografen Carroll, was zumindest aus heutiger Sicht auch kritisch gesehen wird. Die Malerin Gertrude Thomson schrieb in Erinnerung daran:
Sein Foto-Studio auf dem Dach des Colleges war ein großer Raum, der mit allen möglichen Requisiten, Kostümen und so weiter vollgestellt war. Er zog die Kinder mit verschiedenartigen, ganz seltsamen Kostümen an und „nahm“ sie in allen möglichen Posen auf; Pausen für Erfrischungen und Spiele waren sehr häufig. Die Schränke mit den Zauberdingen wurden geöffnet, und dort kam eine wundersame Prozession zum Vorschein: mechanische Bären und Ringer, Kaninchen, Affen und andere wunderbare und reizende Tiere. Wir setzten uns zusammen auf den Fußboden, Lewis Carroll, die Feen, die Tiere und ich, und die Stunden, die wir so verbrachten, waren sehr lustig. Wie sein Lachen klang - wie das eines Kindes!
(Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 118)
Der Künstler Lewis Carroll und der Bürger, Diakon und Mathematiklehrer Charles Lutwidge Dodgson, der seit seinem Studium bis zu seinem Tod im Oxforder Christ Church College lebt und arbeitet - sie sind zwei Seiten einer Doppelexistenz. Auf der einen Seite der, der die strengen Moralnormen seiner Zeit selbst vertritt und, wenngleich leidend unter ihnen, auf sich selbst anwendet. Auf der anderen Seite der Meister des Nonsens, der Parodie, der Wort- und Logikspiele - der absurden Gegenwelt, in die er sich ebenso flüchten konnte, wie es seine Leser und Leserinnen bis heute können.
Auch wenn es schwache Bezüge zu Vorgängern und Zeitgenossen da und dort gibt, waren Carrolls Geschichten im Grunde ohne Vorbild. Carroll reihte assoziativ Szene an Szene, ohne einen deutlichen Erzählstrang unter Nutzung dessen, was man Traumlogik nennen könnte. Seine literarische Technik begeisterte später vor allem die Surrealisten. Und so soll einer ihrer Hauptvertreter und Theoretiker, André Breton, das letzte Wort haben. In der von ihm 1940 herausgegebenen „Anthologie des schwarzen Humors“ schrieb er über Lewis Carroll:
Die Bereitschaft, das Absurde zu bejahen, erschließt dem Menschen wieder das geheimnisvolle Reich, in dem die Kinder leben. Das Spiel der Kindheit als verlorengegangenes Mittel des Ausgleichs zwischen Handeln und Träumen zwecks innerer Befriedigung, angefangen mit dem einfachsten „Wortspiel“, wird solchermaßen rehabilitiert und aufgewertet. Es geht um den Widerstand, den das Kind von Natur aus immer jenen entgegenstellen wird, die es formen, das heißt, in ihre Gewalt bringen wollen, indem sie ihm mehr oder weniger willkürlich sein wundervolles Feld der Erfahrung begrenzen. (Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll, S. 148)
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Aus: Dino Saluzzi: Cité de la Musique: romance
- Aus G. Trovesi & G Coscia: In cerca di cibo: Lucignolo
- Aus: Jefferson Airplane: surrealistic pillow: white rabbit
- Aus G. Trovesi & G Coscia: In cerca di cibo: in groppa al tonno (forte)
- Aus G. Trovesi & G Coscia: In cerca di cibo: fata turchina
- Aus: Dino Saluzzi: Cité de la Musique: how my heart sings