Staunen – Vermissen – Widerstehen

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Ryan Magsino

Staunen – Vermissen – Widerstehen
Morgenandacht von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
10.05.2023 - 06:35
03.03.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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Staunen – vermissen – widerstehen. Drei Verben für eine große Reise. Einen großen inneren Weg. Staunen – vermissen – widerstehen. So beschreibt die Theologien Dorothee Sölle den mystischen Weg zu Gott. Für Menschen, die heute diese große Reise antreten - in die Tiefe, in das Wesen der Dinge und der Welt.

Staunen steht am Anfang. Es ist die Art und Weise, wie wir schon als Kind uns dem Leben und der Welt zuwenden. Beim Blick in den Himmel - Wolken, Wind, Sterne. In den Bergen. Am Meer. Beim Blick in den Spiegel – ach, dass es mich gibt! Im Garten: Libellen, Schmetterlinge. Oder auch Kellerasseln. Unser ältester Sohn konnte diese kleinen pelzigen Wesen mit ihren kleinen Füßchen eine Ewigkeit lang bestaunen, untersuchen und die Hosentaschen damit vollstopfen.

„Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Psalm 8).

Die Seele braucht das Staunen. Dieses „Freiwerden von Gewohnheiten, von Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten um uns lagern und unberührbar und unempfindlich machen.“ (D.Sölle, Mystik und Widerstand, S. 125)  Staunen, Verwunderung ist eine Art, Gott zu loben, ohne seinen Namen zu nennen. Man schließt sich, bewusst oder unbewusst, den Himmeln an, die „des Ewigen Ehre rühmen.“ (Ps 19,2).

Je tiefer ich da hineingerate, umso mehr aber kommt das Vermissen. Am tiefsten Punkt war ich an einem Tag im Sommer 2014. Als wieder ein Krieg in Gaza und der auf der Krim ausbrach. Ich stehe mittags um 14 Uhr im Wohnzimmer und höre die Nachrichten im Radio. Blauer Himmel, die Sonne scheint, die Blumen blühen im Garten. Da wird mir schlagartig bewusst, ich werde nie eine Welt in Frieden erleben, solange ich lebe. Man kann mich für naiv halten, dass ich das überhaupt gehofft habe, nicht nur als Jugendliche, sondern auch noch als erwachsene Frau. Vielleicht bin ich es ja. Vielleicht bin ich auch mit meinen jetzt 60 Jahren jetzt immer noch nicht in der Lage, Grausamkeiten, Kriegsverbrechen, Terroranschläge ohne großes Staunen und Entsetzen hinzunehmen. Ich werde mich immer wieder fragen, wie ist das nur möglich? Die amerikanische Publizistin Susan Sontag, die sich mit Krieg und Fotografie intensiv auseinandergesetzt hat, meinte: ab einem gewissen Alter hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld und vor allem nicht auf Vergesslichkeit. Der ernüchterte Mensch weiß doch, wozu Menschen fähig sind. Ich kann alles erfahren darüber, wenn ich mutig bleibe und genau hinschaue. An diesem Mut fehlt es mir nicht. Doch mein Entsetzen über die Zerstörung des Wunders wird nicht abnehmen. Ich habe eher den Eindruck, es wird größer, je älter ich werde. Immer wieder möchte ich mir die Augen und die Ohren zuhalten, weil ich es nicht mehr ertrage, ich habe so genug von Menschen- und Seelenhändlern, von Kriegen, von Parolen, von Großmannssucht. Ich vermisse Gott.

Sobald ich der Verzweiflung diese Richtung gebe, wird daraus ein Gebet. Die einzige Möglichkeit, nicht nur zu Grunde zu gehen, sondern von dort wieder aufzutauchen. Mit Kraft. Mit Widerstandskraft und noch größerer Liebe zum Leben. 

Bei Dorothee Sölle heißt diese dritte Station: In-Gott-leben, Heilen und Widerstehen. Ich akzeptiere in keiner Weise die Gesetze des Todes. Ich lebe in einem anderen Gebiet, in einem anderen Reich und nichts kann mich da herausreißen.

Staunen – vermissen – widerstehen.

Es gilt das gesprochene Wort.

03.03.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen