Morgenandacht
Gemeinfrei via Unsplash/ Rikki Chan
Gehweg
Morgenandacht von Pastorin Jasmin Jäger
29.08.2023 06:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

In meiner Erinnerung stehen wir in der Einfahrt, auf dem Gehweg vor dem Haus ihrer Eltern. Wir müssen im Grundschulalter gewesen sein – Anna und ich. Anna heißt nicht Anna. Anna war meine beste Freundin. Wir träumten, von Haus zu Haus eine Seilbahn zu spannen, kletterten auf Bäume, tobten und spielten zusammen. Idyllische Kindheitserinnerungen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie wir uns zum Abschied umarmen. Das war das letzte Mal, dass wir uns gegenüberstanden, auf dem Gehweg vor dem Haus ihrer Eltern. Ich weiß nicht, ob ich damals geweint habe. Ein wenig ist meine Erinnerung bruchstückhaft. Ich glaube, sie stieg in ein silberfarbenes Auto. Anna musste weg, ihre Mutter wollte gehen. „Frauenhaus“ – das Wort hat sich in meine Erinnerungen eingebrannt: „Frauenhaus“. Ich war zu jung die Situation zu begreifen, zu alt sie zu vergessen.  

Heute verstehe ich. Gewalt hat viele Gesichter, Formen und Farben. Blaue Augen, überschminkte Schläge, kaschierte Narben. Annas Mutter ist mit ihrem Schicksal nicht alleine: 240.547 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden. Mehr als 70 Prozent Frauen, darüber hinaus Männer, Kinder und Pflegebedürftige. Die Dunkelziffer riesig. Das schreibt das Bundeskriminalamt im aktuellen Bundeslagebild „Häusliche Gewalt“. „Jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren wurde“, laut Internetseite des Familienministeriums, „bereits einmal in ihrem Leben von ihrem Lebensgefährten oder Ex-Lebensgefährten misshandelt.“

Es ist nicht einfach, über erfahrene Gewalt zu reden. Niemand verlässt ohne guten Grund sein Zuhause und flieht. Ich kann nur mutmaßen, wieviel Kraft es gekostet haben muss. Was für ein Mut, ihr Zuhause zu verlassen, die Mauern aus Angst und Scham zu überwinden und aus dem eingefahrenen System auszubrechen! Annas Mutter hat es geschafft.

Die Bibel erzählt in einer Geschichte aus der Frühzeit von Hagar. Hagar war die Magd von Sarai, einer wohlhabenden Nomadin. Sarai und ihr Mann Abram hatten keine Kinder bekommen. So gab Sarai ihrem Mann ihre Magd Hagar zur Nebenfrau – und Hagar wurde schwanger. Die Situation zwischen den beiden Frauen spitzte sich zu: Hagar sah auf ihre Herrin Sarai herab, Sarai wurde eifersüchtig und Abram hielt sich aus der Sache heraus. „Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht, dass diese ihr davonlief“, heißt es in 1. Mose 16.

Hagar floh. Sie konnte Sarais Schikanen nicht länger aushalten. Also Flucht allein als Schwangere in die Wüste. Und dort in der Wüste, an dem Ort ihrer Einsamkeit, begegnet ihr ein Engel Gottes. Hagar erlebt: Gott sieht mich. Er überlässt mich nicht allein meinem Schicksal. Er sieht nach mir. So gab Hagar dem Gott, der ihr begegnet war, den Namen „El Roi“ – „Du bist ein Gott, der mich sieht“.

 „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Das hat Hagar erlebt. Gott schickte seinen Engel und sah nach ihr. Gott sieht uns Menschen. Er sieht hin – und manchmal tut er das auch durch andere Menschen.

Es ist einfach, wegzuschauen und zu schweigen. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Niemand sollte Gewalt in seinem Zuhause aushalten, von einem Menschen, den man einst oder manchmal noch immer schätzt und liebt, in einer Beziehung, in die man mal sein Vertrauen gesetzt hat. Ja, es kostet viel Kraft, Licht ins Dunkel zu bringen und hinter die Fassade blicken zu lassen. Und es ist ein langer Weg vom Haus - zum Gehweg – ins Auto.

Es gilt das gesprochene Wort.