Mit den Toten leben?

Am Sonntagmorgen

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Mit den Toten leben?
26.11.2023 - 08:35
30.05.2023
Pfarrer i. R. Peter Oldenbruch

von Pfarrer i.R. Peter Oldenbruch

Über die Sendung:

Die Sterbenden kehrten „nicht heim zu Gott, sondern zurück zum Staub“, aus dem sie gemacht sind. So formulierte zum Beispiel Eberhard Jüngel die „Entplatonisierung“ des Todes. Der Tod sei „das Ereignis der die Lebensverhältnis total abbrechenden Verhältnislosigkeit.“ Die Toten sind ganz tot – mit Leib und Seele. Mit der „Ganztodtheorie“ ist meine Theologengeneration groß geworden. In den letzten 20 Jahren hat zumindest teilweise ein Umdenken eingesetzt. Der Tod sei nicht nur Verhältnislosigkeit, sondern es bestehe eine „wechselseitige Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten“. Und: auch „die Verstorbenen müssen lernen, dass sie tot sind.“ So Hans-Martin Gutmann vor 20 Jahren. Heutige Theologinnen denken diese Kritik weiter und reden von einer „die weltlichen Grenzen überschreitenden Gemeinschaft der Toten und Lebenden“ z.B. bei der Feier des Abendmahles, in der „Gemeinschaft der Heiligen“.  Die Toten sind „anwesend“ – in den Herzen, in der Seele. Und gleichzeitig entzogen.

Sendung nachhören:
Sendung nachlesen:

Es muss Hochsommer gewesen sein. Ich gehe nach einer Beerdigung zurück ins Pfarrhaus. Und sehe zwei Frauen, die sich unterhalten. „Ei wo machst´n hie?“, beginnt die eine. „Ich gehn mein Mann gieße“, sagt die andere.

Also: Wohin des Wegs? Ich gehe meinen Mann gießen. Das ist über 30 Jahre her, doch der kurze Dialog ging ins Ohr und blieb im Kopf. Warum, weiß ich nicht. Aber wer weiß schon, warum wir vergessen oder erinnern. Und was.

Die beiden Sätzchen blieben bei mir auch hängen, weil man drüber schmunzeln kann, vermute ich. Und das hab´ ich auch getan. Heute glaube ich jedoch: Der kurze Dialog kratzte damals an meiner Theologie, an meiner Vorstellung vom Tod.

Der Tod, sagte die Theologie in meinem Kopf, ist die totale Verhältnislosigkeit. Die Erinnerung bleibt, aber die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen geht nicht weiter. Der Tod ist der absolute Abschied. So hatte ich das gelernt. Alle jungen Theologinnen und Theologen hatten damals Eberhard Jüngels Buch „Tod“ gelesen. Jüngel war überzeugt:

 „Der Tod ist das Ereignis der die Lebensverhältnisse total abbrechenden Verhältnislosigkeit.“

Und so …

 „das Ende einer Lebensgeschichte, das Ende der Geschichte einer Seele und ihres Leibes, das Ende also der ganzen Person und eben darin Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Lebens. Der Mensch ist, wenn er gestorben ist, nur noch das, was er war.“

So der evangelische Theologe Eberhard Jüngel.

Und der Tod ist das Ende von Leib und Seele. Von wegen: „Die Seele schwingt sich in die Höh´! Der Leib, der bleibet auf dem Kanapee.“ Nichts davon! Keine unsterbliche Seele, sondern ganz tot.

Kommunikation mit den Toten ist damit unmöglich. Man darf Eberhard Jüngels Ganztod-Vorstellung nun nicht so verstehen, als leugne er die Auferstehung. Im Gegenteil. Der Mensch werde im Tode nicht vom Nichts begrenzt, sondern von Gott, meint Jüngel. Und es sei …

 „erst recht ein Unterschied, ob der Mensch im Tode vom Nichts begrenzt wird

oder von einem gnädigen Gott.“

 

Und so endet Eberhard Jüngels Buch „Tod“ mit den Sätzen:

 „Tod soll sein und muss werden, was Jesus Christus aus ihm gemacht hat:

Die Begrenzung des Menschen allein durch Gott, der da, wo wir schlechthin ohnmächtig sind, seine Macht nicht missbraucht. Wo wir nichts machen können, ist er für uns da. Er führt es herrlich hinaus.“

 

Von einer unsterblichen Seele ist hier keine Rede, wohl aber von einer Neu-Schöpfung allein durch Gott, … dann. Wo unser Herz zu schlagen aufhört, da erweise sich der Schöpfer noch einmal als Schöpfer-Gott. Der, der ganz am Anfang das Leben aus dem Nichts geschaffen hat, schafft etwas Neues.

Für die Toten können die Lebenden also nichts tun, hatte ich vor 50 Jahren gelernt.

Kommunizieren kann man mit ihnen nicht. Und sie sind - etwa bei einer Beerdigung - auch nicht anzusprechen. Das aber habe ich häufig erlebt. Wenn zum Beispiel der Vereinsvorsitzende den Verstorbenen am Grab mit Vornamen angesprochen und ihm gedankt hat für jahrzehntelange Tätigkeit als Kassenwart. „Lieber Willi, du warst unser bester Kassierer!“ Auch darüber habe ich innerlich geschmunzelt, ich geb´s zu. Schließlich hatte ich Jüngels so genannte Ganztod-Theorie studiert. Und beherzigt.

Und dann sagt diese Frau zur anderen: „Ich gehe meinen Mann gießen.“ Sie spricht darüber wie über eine Selbstverständlichkeit. Die Frau, die ihren verstorbenen Mann gießt, betreibt nicht einfach nur Grabpflege. So wie sie es formuliert, macht sie etwas, was nach der Ganztod-Theorie gar nicht funktionieren kann. Sie stellt mit dem Verstorbenen ein Verhältnis her, besucht ihn, bringt ihm etwas vorbei, kümmert sich um ihn.

Beim mexikanischen Totenfest besuchen die Verstorbenen die Lebenden. Die Toten sind sozusagen „auf Urlaub aus dem Jenseits“ und brauchen jetzt Wasser und etwas zu essen. Die Lebenden servieren es ihnen. Essen können die Toten selbstverständlich nicht; „sie nehmen alles durch den Geruch auf. Man sagt, anschließend seien die Nahrungsmittel ganz kraftlos“. Diese Vorstellung stammt ursprünglich aus der Kultur der Azteken. Später kamen christliche Motive dazu.

„Ich gehe meinen Mann gießen“ -so weit … sind die beiden religiösen Praktiken nicht voneinander entfernt.

Auch in der evangelischen Kirche werden Tote angesprochen. Dort ist heute Toten- und Ewigkeitssonntag. Die Pfarrerinnen und Pfarrer verlesen heute die Namen der Verstorbenen des zu Ende gehenden Kirchenjahres. Sie sagen dazu: „Für alle Verstorbenen zünden wie jeweils eine Kerze an, die die Angehörigen später mit nach Hause nehmen können.“ Für die Verstorbenen. Für sie oder für die Trauernden? Für die Verstorbenen, heißt es im Gottesdienst. Und im Licht der Kerzen sind die Toten plötzlich präsent. Sie sind den Trauernden nahe und die Trauernden halten ihnen die Treue, sie geben ihre Toten nicht dem Vergessen anheim. Noch nicht. Denn irgendwann kann sich niemand mehr an uns erinnern.

Ein anderer besonderer Moment, bei dem nach evangelischer Tradition Tote angesprochen werden, ist bei der Aussegnung. Am Tag des Todes können die Angehörigen eine Pfarrerin oder einen Pfarrer anrufen, um den gerade Verstorbenen zu segnen. Dabei sagt die Pastorin oder der Pastor:

 „Es segne dich Gott, der Vater, der dich nach seinem Ebenbild geschaffen hat.

Es segne dich Gott, der Sohn, der dich durch sein Leiden und Sterben erlöst hat.

Es segne dich Gott, der Heilige Geist,

der dich zum Leben gerufen und geheiligt hat.“

 

Auch manche Gebete beim Abendmahl beziehen die Toten ausdrücklich in die Feier ein. In einem Gebet heißt es:

 „Mach uns froh, wenn wir dich loben mit den Engeln,
mit allen, die vor uns geglaubt haben und
mit der Christenheit in der ganzen Welt.“

 

Das drückt den Glauben aus: Es gibt eine Verbindung über den Tod hinaus.

Viele Menschen reden im Alltag mit ihren Toten. Meine Nachbarin zum Beispiel.

Ihre Mutter ist vor anderthalb Jahren in biblischem Alter verstorben. Meine Nachbarin sagt, dass sie fast jeden Tag mit der Mutter redet. Was sie ihr erzählt, habe ich sie gefragt.

 „Egal, ob ich im Garten bin, weil was nicht gut wächst, was bei meiner Mutter gewachsen ist. Dann sag´ ich ihr nur: Das ist dieses Jahr nichts geworden. Was machen wir denn jetzt? Oder aber auch in Familienangelegenheiten. Da hat ihre Enkelin geheiratet, sie hat noch mal ein Urenkelchen bekommen. Die Enkelin ist in ihre Wohnung eingezogen. Ich weiß, dass meine Mutter sich riesig darüber gefreut hätte. Und das habe ich ihr auch so erzählt.“

Ich habe sie dann gefragt, ob sie das Gefühl hat, dass ihre Mutter ihr zuhört.

 „Nein, das hab´ ich nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass es gut ist, einfach das auszusprechen.“

 

Es sind ganz alltägliche Dinge, in die die Nachbarin ihre Mutter einbindet:

 „Wenn die Kraniche im Frühjahr und im Herbst drüberfliegen - das hat sie unwahrscheinlich gerne gehabt. Und dann sag´ ich das auch, wenn ich am Grab stehe. Mama, hast du die Kraniche gehört? Mir ist ja klar, dass sie das nicht hört, aber trotzdem …“

Ich habe auch mit meinen Toten geredet, nicht mit allen. Und nicht immer in der gleichen Intensität. Mit G. zum Beispiel, einem Freund, mit dem ich in gemeinsamer Arbeit ein Herzensprojekt realisiert habe und der sich wenige Monate danach das Leben genommen hat. Mit dem toten G. habe ich einige Jahre lang gehadert. Ich wusste vorher, dass da etwas passieren wird, habe ihn die Woche vor seinem Tod angerufen, mehrfach täglich, ihn aber nie erreicht.

Nach seinem Suizid habe ich lange innere Dialoge mit ihm geführt, ich habe ihm auch Vorwürfe gemacht und immer wieder erklärt, wie schön diese gemeinsame Arbeit war. Manchmal habe ich auch laut gesprochen. Nein, G. hat mir nicht geantwortet, aber ich hatte lange Zeit das Gefühl, er sei irgendwie noch da, anwesend. Ich hatte dieses Gefühl, obwohl ich wusste oder zu wissen meinte, dass das gar nicht sein kann. Es war, als müsste ich mir selbst auf die Finger hauen.

30 Jahre nach Eberhard Jüngel schrieb Hans-Martin Gutmann sein Buch „Mit den Toten leben - eine evangelische Perspektive“. Von ihm habe ich den Titel für diese Sendung übernommen: „Mit den Toten leben“. Auch für Gutmann sind die Toten selbstverständlich tot.

 „Wie wir sie gekannt haben, wie wir unser Leben mit ihnen gelebt haben, wie sie ihre Beziehung mit uns gestaltet haben, lässt sich nicht fortsetzen. Wir müssen uns trennen“ und „diesen Tod als Grenze des Lebens anerkennen“ - „auch als Erinnerung daran, dass wir selbst sterben müssen.“

Auch Hans-Martin Gutmann begreift den Tod als Abbruch, als Abschied. Allerdings meint er, dass es in den jüdisch-christlichen Erzähltraditionen über Leben und Tod Hinweise gibt, die es nötig machen,

„hier noch einmal neu nachzudenken. Tod ist, so meine ich, nicht nur Verhältnislosigkeit, die allein durch das Aufgehobensein des Toten in Gott begrenzt […] ist. Sondern es besteht […] eine wechselseitige Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten, allerdings in einer […] vollständig anderen, neuen, unberechenbaren Weise.“

Womöglich müssen nicht allein die Trauernden lernen, ohne ihre Toten zu leben.

 „Auch die Toten haben Orientierungsbedarf […]. Sie müssen realisieren, dass sie tot sind - wie immer das näher gedacht werden muss. Die Toten müssen ihren Weg zum Reich Gottes, ihren neuen Status in der Gemeinschaft der Heiligen wahrnehmen lernen. Sie müssen […] lernen, dass sie tot sind. Sie müssen die Lebenden ihr Leben in Ruhe leben lassen.“

Hans-Martin Gutmanns Gedanken sind theologische Denkfiguren. Wir können mit ihnen zu denken versuchen. Mein langes Hadern mit meinem verstorbenen Freund  hat vielleicht dazu geführt, dass er mich irgendwann in Ruhe ließ. Ich muss mich deswegen nicht mehr zensieren.

Der Tod ist ein radikaler Einschnitt. Die Beziehung zu den Verstorbenen geht danach nicht weiter wie vorher. Das ist schmerzhaft und schwer zu verkraften. Aber deswegen müssen wir die Toten nicht vollends aus der Welt der Lebenden verbannen.

Ich tue die Lebenspraxis der Menschen nicht mehr ab, die mit ihren Toten reden.

Ich kann sie mittlerweile verstehen. Auch wenn ich über den Satz der Frau auf dem Weg zum Friedhof „Ich geh meinen Mann gießen“ nach wie vor lächele. Und über den Vereinsvorsitzenden, der den verstorbenen Kassierer Willi persönlich ansprach, ebenfalls. Auch den eigenen hilflosen Versuchen, mit dem Tod und den Toten umzugehen, dürfen Menschen mit einem Lächeln begegnen. „Ist ja klar, dass sie nicht hört, aber trotzdem …“

Wo wir schlechthin ohnmächtig sind, glaubte Eberhard Jüngel, wo wir nichts machen können, ist Gott für uns da. Und er führt es herrlich hinaus.

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

1: Genesis, Another Day in Paradise, 2016 Remaster

2: Céline Dion, My Heart Will Go On

3: Johann Sebastian Bach, Wachet auf, ruft uns die Stimme, BWV 140

4: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 7 in A-Dur, op. 92, II. Satz Allegretto

5: Céline Dion, My Heart Will Go On

 
30.05.2023
Pfarrer i. R. Peter Oldenbruch