Sie war groß auf dem Sommer-Cover der Vogue: Margot Friedländer, Holocaust-Überlebende, Zeitzeugin und ein Vorbild dafür, was Ältere den Jüngeren weitergeben können.
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Eigentlich wollte ich es schon längst kaufen, das Juli-/August-Heft der Vogue. Jetzt hat es eine Freundin für mich mitgebracht. Am Bahnhofskiosk hat sie eines der letzten Exemplare bekommen. Nun liegt das Heft mit Margot Friedländer auf dem Cover auf meinem Tisch.
Da steht sie aufrecht und selbstbewusst in ihrem roten Mantel. Am Revers das Bundesverdienstkreuz Sie strahlt eine ruhige Würde aus. Ein Mensch, wie er gemeint war, schreibt ein Kollege im Netz. Ein schöner Gedanke, dass wir erst noch werden, wer wir wirklich sind. Und das Beste kommt zum Schluss.
Der letzte Wunsch der Mutter
Für Margot Friedländer gilt das tatsächlich. Denn die sogenannten besten Jahre hielten vor allem Angst und Schrecken für sie bereit. Sie war 21, als ihre jüdische Mutter mit dem jüngeren Bruder ins KZ deportiert wurde. Margot konnte sich nicht einmal verabschieden. Die Nachbarin gab ihr die Kette ihrer Mutter, die sie bis heute trägt, und deren letzten Wunsch. Eine Ermutigung: "Versuche, dein Leben zu machen!" Das hat Margot getan. Sie ging in den Untergrund, dann mit einem Freund nach New York. Sie heiratete und wurde Amerikanerin.
In ihren 80ern erst, nach dem Tod ihres Mannes, zog ihre Sehnsucht sie zurück nach Berlin. Sie bekam ihren deutschen Pass, ging in Schulklassen und erzählte ihre Geschichte, damit sich das Ganze nicht wiederholt. Sie spricht darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein und den anderen als Menschen zu sehen. Weil wir alle das gleiche Blut haben. Kein deutsches, christliches, jüdisches, muslimisches Blut, sondern menschliches Blut. Sie sieht ihren Auftrag darin, daran zu erinnern. Das ist ihr Vermächtnis. Sie ist jetzt 102 Jahre alt.
Geschichte von Flucht und Rückkehr
"Versuche, dein Leben zu machen!" Die Botschaft der Mutter an ihre Tochter Margot erinnert mich an eine Erzählung aus der Bibel. Es ist ebenfalls eine Geschichte von Flucht und Rückkehr, wenn auch aus anderen Gründen. Noomi, eine Frau aus Bethlehem, gibt ihre Lebenserfahrung an Rut, ihre Schwiegertochter aus dem Nachbarland, weiter. Noomi war mit ihrem Mann und den beiden Söhnen ins Nachbarland Moab gezogen, weil in ihrer Heimat Bethlehem Hunger herrschte. Das Nachbarland wurde zur neuen Heimat. Die Söhne heirateten Moabiterinnen. Die Familie war angekommen.
Aber dann beginnt das Elend von vorn. Kurz hintereinander sterben Noomis Mann und auch die Söhne. Noomi beschließt, nach Bethlehem zurückzukehren. Rut, eine der beiden Schwiegertöchter, geht mit ihr. Und jetzt hilft Noomi Rut, das neue Land zu verstehen und ihren Weg zu finden.
Die zentrale Aufgabe des Alters
"Versuche, dein Leben zu machen!" Margot aus Berlin und Noomi aus Bethlehem. Ich lerne viel von den beiden Frauen. Sie waren Flüchtlinge. Sie haben gehungert. Sie haben neue Anfänge gewagt. Sie haben die Rückkehr riskiert. Sie haben ihr Leben gemacht – mit allen Schattenseiten. Und ihren Auftrag ernst genommen. Am Ende ging und geht es um ihr Erbe, um die Erfahrungen, die sie weitergeben. Es zählt nicht, wo jemand herkommt, sondern ob er und sie ein Mensch ist.
Welchen Grund zu leben und zu hoffen gebe ich an die nächste Generation weiter? Das sehe ich als eine zentrale Aufgabe des Alters. Welche entscheidenden Erfahrungen will ich weitergeben? Was macht mich stark, wenn es schwierig wird? Was gibt Hoffnung auf eine neue Zukunft?
Die Fürsorge der Älteren für die kommenden Generationen ist wichtig, damit die ihr Leben machen können. Das gilt für uns alle. Für die Älteren, die in ihrem bisherigen Leben erfolgreich waren. Es gilt aber besonders für die, die um ihre Zukunft kämpfen mussten. Als Migranten wie Noomi oder als Verfolgte wie Margot Friedländer. Für mich sind sie Vorbilder. Wo kann ich Jüngere ermutigen: "Versuche, dein Leben zu machen!"
Es gilt das gesprochene Wort.