Der Christus der Kriegsgefangenen
Eine Figur aus Pappmaché überdauert die Zeit.
09.10.2024 06:35

Es begann mit einem Theaterstück, das Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg aufführen wollen, um die Zeit zu füllen. Daraus wird eine französisch-deutsche Geschichte der Verständigung. 

 

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Was hat dieser Christus nicht alles erlebt. Er war in Kriegsgefangenschaft. Er wurde zur Kulisse in einem Theaterstück. Man zerbrach ihn und trug ihn auf einen Dachboden, wo er jahrelang verstaubte. Bis er gefunden und restauriert wurde und einen würdigen Platz in einer Kapelle fand. 80 Jahre währte die ungewöhnliche Reise dieser Christusfigur. Mannshoch ist sie, scheinbar aus Holz geschnitzt – und doch nur aus Papier gestaltet. Zu sehen ist sie in der St. Jacobi-Schlosskirche in Osterode am Harz. 
Wo fing die Geschichte an? Ein Malermeister aus dem Städtchen Osterode in Niedersachsen lernt in Frankreich einen ehemaligen Kriegsgefangenen kennen. Dieser war in Osterode in Kriegsgefangenschaft, erzählt er. Ob denn das Kruzifix noch existiere, fragt der Franzose. Der Gast aus Deutschland antwortet, davon habe er nie gehört. Zurück in seiner Heimatstadt Osterode berichtet er der Kirchengemeinde davon. Der Küster der Gemeinde begibt sich auf die Suche. Und tatsächlich: Auf einem Dachboden ragt zwischen lauter Gerümpel eine Figur hervor, zerstört, zerbrochen – und doch erkennbar: Eine Christusfigur! 
Nach und nach wird nun ihre Geschichte bekannt. Entstanden ist sie im Kriegsgefangenenlager im Jahr 1940. Die französischen Kriegsgefangenen in den Baracken in Osterode suchen etwas, das sie am Leben hält und ihre Zeit füllt. Sie gründen eine Theatergruppe. Aufführen wollen sie ein Stück, das die Geschichte von Don Quichote nacherzählt. Dafür brauchen sie eine lebensgroße Christusfigur. 
Doch woher nehmen? Die Kriegsgefangenen kommen auf eine ungewöhnliche Idee. Sie nehmen alte Zeitungen, zerkleinern das Papier, reichern es mit Flüssigkeit an und ergänzen es mit Leim – und so entsteht eine Art Pappmaché, eine formbare Masse. Ein Künstler unter ihnen gestaltet nun die Christusfigur. Er modelliert das schmerzverzerrte Gesicht, die Dornenkrone und die Nägel, die durch die Hände getrieben sind. Vor den Augen der Kriegsgefangenen entsteht ein Schmerzensmann, der sie berührt. Schließlich wird er nicht nur zur Kulisse in einem Theaterstück, sondern auch zu einem Ort für Andacht und Gebet. 
Mehr als 35 Jahre später erreicht einen der ehemaligen Kriegsgefangen in Frankreich ein Brief. Das Kruzifix sei wiedergefunden, gereinigt, restauriert, um ein neues Holzkreuz ergänzt und solle nun einen würdigen Platz in der Seitenkapelle der Schlosskirche in Osterode finden. 
Zu diesem Festakt reisen viele der ehemaligen französischen Kriegsgefangenen an, zum Teil mit Familien, sogar mit Enkeln – unter ihnen der Künstler, der das Kruzifix erschuf. Gerührt notiert er in das Gästebuch der Gemeinde: "Dies war mein Christus. Es wurde unser Christus. Dies ist jetzt Euer Christus." Wer heute die Kapelle betritt, entdeckt nicht nur diese ungewöhnliche Christusfigur, sondern auch deren ungewöhnliche Geschichte. Man könnte den Eindruck gewinnen, der liebe Gott habe mit diesem Kunstwerk schon immer viel vorgehabt. 
Mich begleitet der Christus der Kriegsgefangenen seit meiner Kindheit in Osterode, er gehört in meine Heimat- und Konfirmationskirche. Ich sehe in ihm ein Symbol der Versöhnung zwischen den Völkern. Zugleich aber ist der Christus der Kriegsgefangenen ein Zeichen für die Kraft des Glaubens, der sich manchmal ganz überraschende Wege sucht. 
Buchstäblich aus dem "Nichts" haben die damaligen Kriegsgefangenen etwas geschaffen, das die Zeit überdauert, weil sie den Willen und den Glauben hatten. Und so haben sie - ohne es zu ahnen – einem leidenden Christus für ihre Zeit, in ihrer Situation eine Form gegeben, ja, ihn unter sich aufgenommen. 
Vielleicht so, wie es Christus im Matthäusevangelium sagt: "Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen." (Matthäus 25)

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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