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Israelsonntag
ein Beitrag der evangelischen Kirche
23.08.2025 10:00

Wie erkennen wir, was zum Frieden dient? Gedanken zum Israelsonntag von Angelika Obert. Ein Beitrag der Evangelischen Kirche.

Beitrag nachlesen:

Jesus weint über Jerusalem. Er sieht voraus, dass die Stadt brutal zerstört werden wird. Und er klagt und sagt zu der Stadt, als wäre sie eine Person: "Wenn doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient!" So erzählt es der Evangelist Lukas. (Lukas 19, 41– 44) Ob Jesus die Katastrophe wirklich vorausgesehen hat? Sie geschah ja erst im Jahr 70 nach Christus. Die Römer machten Jerusalem dem Erdboden gleich, ließen den Tempel in Flammen aufgehen, vertrieben und versklavten die Einwohner. Es war das Ende für das damalige Israel. Jüdinnen und Juden wurden in alle Welt zerstreut.

Als Lukas sein Evangelium schrieb, wusste er davon. Und er wusste auch: Der Jerusalemer Tempel ist auch ihn das Haus seines Vaters im Himmel. (Lukas 2, 41 – 49) Wie sollte Jesus nicht weinen über das Entsetzliche? 

Tischa BeAw

Die Zerstörung des Tempels beklagen Jüdinnen und Juden heute noch. Mitten im Sommer begehen sie im Gedenken daran Tischa BeAw, einen Tag der Trauer und des Fastens. Dunkel ist es dann in der Synagoge. Man sitzt auf dem Boden und liest die biblischen Klagelieder. In prophetischer Tradition wird dabei auch an die eigenen Fehler gedacht: Hätten wir doch nur erkannt, was dem Frieden dient! Der Evangelist Lukas hat Recht anzunehmen: Jesus ist da mit ihnen.

Selbstgewiss und hochmütig

Das allerdings hat die Kirche lange nicht verstanden. Sie hat nicht mit Jesus geweint, sondern die Zerstörung Jerusalems als einen Beweis gedeutet, dass Gott Israel verstoßen habe und nun allein die Christenheit Gottes Volk sei. Der jüdische Trauertag Tischa BeAw war Anlass, jeweils am 10. Sonntag nach Trinitatis darüber zu predigen. Aber auch sonst: Immer wieder wurde das Judentum als dunkle Folie benutzt, auf deren Hintergrund der christliche Glaube umso heller glänzen konnte. Selbstgewiss und hochmütig hat die Kirche das Judentum abgewertet, um ihr alleiniges Recht zu behaupten. So hat sie unter dem Anschein der Frömmigkeit den Grund gelegt für den bösen Judenhass durch die Jahrhunderte bis hin zur Shoah.

Umkehr

Die Einsicht kam viel zu spät: "Hätten wir nur erkannt, was dem Frieden dient!" Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann ein jüdisch-christlicher Dialog. Christinnen und Christen entdeckten neu, dass die Kirche ohne das Gottesvolk Israel undenkbar ist. Dass der Vater Jesu Christi der Gott Israels ist, dass Christinnen und Christen an Gottes Verheißungen nur mit Israel Anteil haben.

Seit den 1960er Jahren wird der 10. Sonntag nach Trinitatis in Deutschland "Israelsonntag" genannt. An die Schuldverstrickung der Kirche wird gedacht, aber dankbar auch an die Verbundenheit der Kirche mit Israel: Beide glauben sie an den einen Gott und an sein Liebesgebot. (Markus 12, 28 – 34)

Nicht schon wieder

Der Israelsonntag ist immer sensibel. Im letzten und in diesem Jahr noch mehr. Denn es gibt nun anderen Grund zu Klage und auch Anklage. Da war das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023. Die Hoffnung zerbrach, der Staat Israel könne eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden sein.

Und da ist nun der Krieg, den die israelische Regierung in Gaza führt mit einer Zerstörungswut wie einst die Römer in Jerusalem. Wieder scheint niemand mehr zu erkennen, was dem Frieden dient. Ja, es wird höchste Zeit, der Zerstörungswut Einhalt zu gebieten, den Menschen in Gaza Rettung zu ermöglichen, die israelischen Geiseln endlich zu befreien.

Aber die zornige Empörung, mit der jetzt vielfach über Israel gesprochen wird – ist die nicht auch selbstgerecht und hochmütig? Mir kommt es in vielen Gesprächen so vor. Als ob wir in Deutschland immer dem Frieden gedient hätten, gänzlich unbeteiligt wären an der elenden Konfliktgeschichte im Nahen Osten! Schon wieder geraten Jüdinnen und Juden in aller Welt unter Verdacht und in Gefahr. Der alte Hass lebt wieder auf. Auch in der Kirche: die alte Rechthaberei.

Nein, denke ich. Nicht schon wieder: Selbstgewiss und hochmütig bloß Recht haben wollen. Es ist die Zeit, mit Jesus zu weinen. Ich nehme mir ein Gedicht des jüdischen Dichters Jehuda Amichai zu Herzen: 

"An dem Ort, an dem wir recht haben,

werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr.

Der Ort, an dem wir recht haben,

ist zertrampelt und hart wie ein Hof.

Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf

wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.

Und ein Flüstern wird hörbar

an dem Ort, wo das Haus stand,

das zerstört wurde."