Wort zum Tage
Flügel der Morgenröte
03.03.2015 05:23

Die Bergspitze erreicht etwas über 3000 Meter. Kurz darunter eine Aussichtsplattform. Mir wird schon schwindlig, wenn ich nur ans Geländer dieser Plattform trete. Andere brauchen weder Plattform noch Geländer. Sie stehen mit beiden Füßen auf einem Felsvorsprung. Ein Sprung. Arme und Beine werden weit vom Körper weggestreckt. Mit der Flugluft gleiten sie ins Tal. Nur eine Art Anzug tragen sie; der soll ihnen helfen beim Gleiten. Er lässt die Fliegenden ein bisschen aussehen wie Fledermäuse. Wingsuit diver nennen sich diese Extremsportler; sie starten von den spektakulärsten Bergen dieser Welt.

 

Einige von denen, die da abspringen, steigern das Extreme des Sports noch: Sie fliegen bis ganz dicht über den Boden. Fehler oder Fehleinschätzungen der Wind- und Wetterverhältnisse enden oft tödlich. „Etwa 50% meiner Freunde beim wingsuit diving habe ich verloren.“ sagt einer der Extremsportler. Die Hälfte!! Warum dann weitermachen? Seine Antwort: „Es ist ja auch nicht Golf oder Schach, sondern zeigt, wohin die Evolution geht. Wir werden immer besser. Gibt es einen anderen Sinn im Leben?“ Eine andere Fliegerin meint: „Ich will die Welt sehen, Dinge tun, von denen andere sagen: das kannst du nicht. Und: Ich möchte leben.“

 

Auch die Flugpioniere vor über 100 Jahren waren davon getrieben, an die Grenzen des Möglichen zu gehen. Was wäre der heutige Flugverkehr ohne die Versuche eines Otto von Lilienthal. Ich bin froh, dass es immer wieder solche Pioniere gibt[, die aus dem Unmöglichen das Mögliche machen]. Denn ich habe noch heute was davon.

 

Ich kenne hingegen Leute, die sich ganz anderen Unmöglichkeiten stellen. Sie gehen dorthin, wo andere Menschen ihr nötigstes Hab und Gut zusammen packen und fliehen mussten und jetzt festsitzen in den Aufnahmelagern des Libanon und Jordaniens. Diese Extremsportler des Helfens suchen zusammen mit den Verzweifelten Wege und Möglichkeiten, etwas Neues aufzubauen, wo Katastrophen Haus und Hof vernichtet haben: auf den Philippinen. Sie öffnen Schutzräume für Minderjährige, die keinen anderen Ort zum Bleiben haben: in den Metropolen Südamerikas.

 

Meist ist keine Kamera dabei, und niemand steht daneben und hält die Luft an: ob das wohl klappt? Aber hier buchstabieren Menschen Hoffnung und Gemeinschaft neu durch. Das ist für mich der nächste Schritt in der Evolution der Menschheit! Ach ja, und leben möchten diese jungen Helfer ebenso gern wie die Fliegerin. Einer von ihnen, – gerade arbeitet er an den Grenzen Nigerias mit traumatisieren Kindern –, verlässt sich auf dieses Wort aus der Bibel: „Würde ich hoch fliegen, wo das Morgenrot leuchtet, mich niederlassen, wo die Sonne im Meer versinkt: Selbst dort nimmst du, Gott, mich an die Hand und legst deinen Arm um mich.“

Sendungen von Pröpstin Christina-Maria Bammel