Morgenandacht
Maria Nazareth
15.12.2015 05:35

Das hatte sie nicht zu träumen gewagt. Ein fester Job. Jeden Tag von elf bis siebzehn Uhr. So lange steht sie Tag für Tag mit ihrem Verlobten auf dem Wittener Weihnachtsmarkt. Vor ihrem kleinen Holzhaus ein paar niedrige Bänke. Darauf sitzen am Nachmittag die Kinder und warten auf Geschichten. Jeden Tag kommt jemand anderes und liest ihnen vor. Maria findet ihren Job hier auf dem Weihnachtsmarkt toll. Sie ist Saisonarbeiterin. Allerdings hatte man sie gleich am Anfang gewarnt. „Lass dich mal bei der Zuwanderungsstelle der Diakonie beraten. Wer weiß, ob du hier in Deutschland überhaupt arbeiten darfst. Schließlich bist du aus Nazareth und erst fünfzehn.“ Gesagt getan. Maria ging hin. Und fragte der Beraterin Löcher in den Bauch. Erfuhr viel über Asylgründe und Einwanderungsbedingungen. Ziemlich komplizierte Angelegenheit. Maria hörte von Hilfsmöglichkeiten für minderjährige Flüchtlinge wie sie selbst, die ohne Eltern kommen. Die Beraterin fragte sie auch nach ihrem dicken Bauch. Da hat Maria lieber nicht geantwortet.  Von Josef hat sie vorsichtshalber nichts erzählt. 

 

Und dann das Angebot der Kirche, der Job auf dem Weihnachtsmarkt.

Maria ist zufrieden. Es läuft einfach gut. Die Kinder kommen in Scharen und haben Eltern und Großeltern oder andere Erwachsene dabei. „Geschichten am Stall“ heißt die Erzählstunde. Denn das Holzhaus, in dem Maria und ihr Verlobter arbeiten, ist mit Heu und Stroh gefüllt. Ein Stall. In der Mitte eine Krippe, in der das Kind liegen kann. Links und rechts Maria und Josef als stolze Eltern. Sie weiß: Wenn der Weihnachtsmarkt zu Ende sein wird, kommt die Zeit, Abschied zu nehmen. Von den Schaustellern und den Weihnachtsmarktbesuchern. Maria zieht ihren königsblauen Umhang noch ein bisschen fester zu. Schon der Gedanke an den Abschied lässt sie frösteln. Doch sie wird etwas mitnehmen – leuchtende Kinderaugen, den Duft von gebrannten Mandeln und Bratwurst. Kerzenschein und das Geläut der Kirchenglocken von der evangelischen Kirche am Markt.

 

Abschied auch von dem evangelischen Pfarrer, der ihr eine unvergessliche Zeit ermöglicht hat – und ein Weiterleben im world wide web. Er hat für Maria Nazareth eine eigene Facebookseite angelegt. Und hier haben sich in kurzer Zeit mehr als tausend Freundinnen und Freunde gefunden. Manche Facebook-Freunde hat sie an ihren Arbeitsstellen oder auch zu Hause besucht. So war sie in einem Hutsalon und im Fitnessstudio. Sie saß mit am Kamin, schlief auf dem Sofa, hatte Spaß mit Konfirmanden und Kindergartenkindern, bei Gospelchören oder bei einem Thanks-Giving-Dinner.

Über das soziale Netzwerk konnten alle virtuellen und realen Freunde an ihren Besuchen teilhaben. Und sogar Fernsehsender wurden auf sie aufmerksam und berichteten über sie und ihre Freunde.

 

Maria und ihr Josef, sie sind Schaufensterpuppen. Lebensgroße Krippenfiguren. Seit dreizehn Jahren schon im Einsatz auf dem Wittener Weihnachtsmarkt. Im vergangenen Jahr schrieben sie durch das soziale Netzwerk Geschichte. Die Menschen wollten mit dieser lebensgroßen Krippenfigur Maria zusammen sein. Wenn sie in ihr Haus kommt, wird es durch sie verwandelt. Sitzt Maria mit am Tisch beim Abendbrot und Frühstück ändern sich die Gesprächsthemen. Man denkt darüber nach: Was kann ich tun für unbegleitete Flüchtlingskinder? Wie kann ich minderjährige Mütter unterstützen? Warum gibt es nicht mehr bezahlbaren Wohnraum für alle? Ob Maria und Josef unseren Chor gut finden?

 

Genau das ist der Sinn von Weihnachtskrippen. Die Anwesenheit von Maria, Josef und dem Kind, den Hirten, Engeln und Königen heiligt die Alltagsräume. Sie wollen sich einbringen, sich unter die Leute mischen, die sie andächtig bestaunen. Mit ihnen ins Gespräch kommen. Deswegen stehen Maria und Josef mit dem Kind, die Hirten, Engel und Könige in den Wohnzimmern, auf den Weihnachtsmärkten und in den offenen Kirchen. Wer aufmerksam ist merkt: Sie haben viel zu erzählen.