Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!
Sendung nachlesen:
Autor: Brücken verbinden, erschließen Regionen, locken zu neuen Zielen, gelegentlich markieren sie Grenzen, bisweilen sind sie unpassierbar. Im Januar 1981, über die Weidendammer Brücke kommend, habe ich den Tränenpalast an der Friedrichstraße betreten und war eine halbe Stunde später in Westberlin. Nur ein paar Kilometer mit der S-Bahn, noch einmal über die Spree und über den Todesstreifen, und ich fühlte mich unendlich befreit. Brücken haben für mich eine große Symbolkraft.
Selbst die Brücke in meiner Heimatstadt Frankfurt an der Oder verband sich in meiner Kindheit mit dem Versprechen von Welt und Weite. Damals war Polen noch kein Reiseland für Ostdeutsche. Die Grenze war geschlossen, die Oderbrücke dicht. Ich war etwa zehn Jahre alt, als wir das erste Mal mit einer Einladung ins Nachbarland reisen durften. Das erste mal in einem fremden Land, ein tolles Gefühl. Dann aber warfen Kinder Steine hinter unserem Trabant her und meine Eltern erklärten mir, dass die Wunden des Krieges noch tief sitzen, gerade bei denen, die als Polen selbst zwangsumgesiedelt waren. 1979 war es leichter, diese Brücke zu passieren. Ich fuhr nach Krakau, traf polnische Intellektuelle. Zurück kam ich mit den ermutigend verstörenden Ideen der Solidarnosc von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
Wenn ich mit Freunden aus meinem Abiturjahrgang über meine Brückenerlebnisse rede, schauen sie mich erstaunt an. Ihnen ging es nicht so. Den Streiks in Danzig, dem Prager Frühling standen sie distanziert gegenüber. Die Brücken in den Westen empfanden sie nicht als Brücken in die Freiheit. Von der DDR waren auch sie genervt, fanden das Eingesperrtsein lästig, aber diese Sehnsucht nach Welt teilten sie nicht. Unter der Bevormundung litten sie damals weniger als ich. Der Begriff „Freiheit“ hatte eine andere Bedeutung für sie, so haben wir festgestellt. Sie empfanden ihren Staat als mangelhaft und verbesserungsbedürftig, für mich handelte es sich um eine Diktatur, die meine Freiheit permanent bedrohte, ich wollte weg.
Kaum war ich auf der Westseite der Brücke, zog ich hinaus in die weite Welt, reiste nach Israel, nach Paris, nach Asien, an alle meine Sehnsuchtsorte.
Autor: Ein ungewöhnliches Brückenbild verbindet sich dauerhaft für mich mit der Landschaft von Bangladesch. Durch Bangladesch fließen sehr viele Flüsse – darunter drei der größten Flüsse Asiens, die alle in den Golf von Bengalen münden: der Ganges, der Brahmaputra und die Meghna. Und weil das Mündungsdelta einen großen Teil des Landes einnimmt, arrangieren sich die Menschen mit den Naturgewalten. In der Trockenzeit fließen die Flüsse gemächlich ins Meer, im Monsun aber werden sie zu reißenden Strömen und irgendwann im Spätsommer steht ein Großteil des Landes unter Wasser. Wenn die Wasser irgendwann wieder abgeflossen sind, ist die Landschaft kaum wiederzukennen. Die Flüsse haben sich ein neues Bett gesucht. Das Land ist ständig in Bewegung und so gibt es nur wenige feste Brücken in Bangladesch. Aber nach jeder Regenzeit werden unzählige provisorische Brücken gebaut. Meist filigrane Bambuskonstruktionen, die nur zu Fuß oder mit dem Rad zu benutzen sind. Sie sind einfach, dabei aber recht stabil. Sie genügen den Anforderungen für eine Saison, mehr braucht es nicht, denn man weiß ja, im kommenden Jahr sieht die Situation wieder ganz anders aus.
Die Brücken in Bangladesch wurden für mich zu einem Bild für die Lebenshaltung der Menschen, die ich dort traf. Die deutsche Einstellung zu Immobilien: solide Bauten, am besten für die Ewigkeit, das wirkt utopisch für alle, die unter den Umständen dort zu leben gelernt haben. In Bangladesch lebt man mit Provisorien und dabei bin ich auf einen für mich kaum fassbaren Optimismus gegenüber dem Leben, gegenüber dem nächsten Tag gestoßen. Ein Sozialsystem oder nennenswerte Ersparnisse gibt es für die meisten Bengalen nicht. Sie haben ihre Familie und die Zuversicht, dass es nach einem Tag mit Hunger wieder einen Tag mit Reis geben wird. Sie genießen es, wenn niemand krank ist, sie freuen sich über all die kleinen Überraschungen, die ihnen der Alltag zu bieten hat. Sie leben mit einem Gottvertrauen, das sie trägt.
In Europa meinen wir, selber unseres Glückes Schmied zu sein, verlassen uns auf unseren Fleiß und einen funktionierenden Sozialstaat. Wir leben mit ganz vielen Sicherheiten: wir sind krankenversichert, rentenversichert, dürfen mit Pflegegeld rechnen, viele besitzen ein Eigenheim – doch dass da viel mehr ist und es durchaus geschenktes Leben, geschenkte Freude, geschenktes Glück gibt, damit wagen wir gar nicht mehr zu rechnen. Es wird uns jedenfalls zu keiner Gewissheit, die zu tragen vermag.
Autor: Der Brückenschlag, zwischen Kirche und Staat, den ich im Westen Deutschlands erlebte, ist mir mit meiner Ostbiografie fremd geblieben. Für die kirchliche Friedensarbeit in der DDR war es selbstverständlich, dass die Kirche auf dem Kasernenhof nichts zu suchen hat. Es hat mich erschüttert, dass vom friedensethischen Ansatz des Ostens nach der Wende wenig übrig blieb. Für viele Menschen im Osten war die Kirche in der Wendezeit Kirche im Widerstand, plötzlich mutierte sie zu einer halbstaatlichen Einrichtung. Vielleicht bedarf es ja einer gewissen Außenseiterposition, damit die Christengemeinde zu ihren Ursprüngen zurückfindet, wobei der Sündenfall der teilweisen Selbstaufgabe sehr weit zurückreicht: Genauer, bis zur Schlacht vor Rom an der milvischen Brücke im Jahre 312. Dort nämlich soll Kaiser Konstantin einer Vision folgend seinen Mitkaiser Maxentius im Zeichen des Kreuzes besiegt haben. Einige Historiker sehen in diesem Ereignis das Startzeichen für den „Siegeszug“ des Christentums. Mit der Bekehrung Konstantins endete die drei Jahrhunderte währende und zeitweise blutige Verfolgung der Christen. Plötzlich waren die Christinnen und Christen geduldet, nicht lange und sie waren privilegiert.
Ob es das Christentum noch gäbe, wenn es sich weiterhin als verfolgte Minderheit hätte bewähren müssen? – ich weiß es nicht! Aber dass mit dieser Wende die pazifistische Botschaft Jesu in ihrer Substanz beschädigt wurde, macht ein Zitat deutlich, das von dem Kirchenlehrer Tertullian stammt. Er lebte in der Zeit von 160 bis 220, in einer Periode also, in denen Christen als Staatsfeinde galten:
Sprecherin: „Es fragt sich gegenwärtig, ob Christen sich dem Soldatenstande zuwenden dürfen, ob Militärpersonen zum Christentum zugelassen werden können... Es harmoniert nicht zusammen, unter dem Fahneneid Gottes und der Menschen, unter dem Feldzeichen Christi und des Teufels, im Lager des Lichts und dem der Finsternis zu stehen, eine und dieselbe Seele kann nicht zweien verpflichtet sein, Christo und dem Teufel... Wenn auch Soldaten zu Johannes kamen und die Richtschnur für ihr Verhalten hinnahmen, wenn sogar ein Hauptmann gläubig wurde, so hat doch der Herr in der Entwaffnung des Petrus jedem Soldaten den Degen abgeschnallt.“
Autor: Waren die Christengemeinde und der römische Staat in der frühen Kirche noch Antipoden, so markiert die Bekehrung Konstantins an der milvischen Brücke den Brückenschlag zwischen Kirche und Staat.
Ein Beiname des Papstes ist „Pontifex“, also Brückenbauer. Doch was heißt das in dieser neuen Konstellation? Um was für einen Brückenschlag handelt es sich? Nutzte die Kirche in dieser neuen Allianz die staatlichen Strukturen nicht ziemlich eigennützig zum Ausbau und zur Sicherung ihrer Privilegien? Und bedient sich der Staat nicht sehr durchschaubar der Kirche, um sein Tun absegnen zu lassen?
Wir leben gerade in einer Zeit, in der beides nicht mehr funktioniert, und so besteht vielleicht die Chance, sich neu zu positionieren. Das eröffnet Möglichkeiten zu entscheiden, wo neue Brücken gebaut werden sollten, zu schauen wo die wahren Abgründe liegen, die es zu überwinden gilt? Mögen manche den Bedeutungsverlust, den die kirchlichen Institutionen gerade erleiden, auch betrauern, ich fühle mich befreit. Solange die Kirchenleute immer auch die gesamtstaatliche Perspektive im Blick haben mussten, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als in ihren Überlegungen sehr nahe bei dem zu bleiben, was auch kluge und verantwortungsvolle Politiker vertreten.
Wenn sich Christen dagegen auf die radikale Position Jesu einlassen, dann ist es eben nicht an ihnen, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Es genügt, das vor Augen liegende wahrzunehmen, auf konkrete Missstände und Nöte zu reagieren, und darauf zu setzen, dass sie dem Geschehen damit eine grundsätzliche, eine von der Welt vielleicht übersehene Wendung geben. Die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin liefert ein solches Beispiel:
Sprecherin: „Jesus aber ging zum Ölberg. Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte, und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.“ (Johannes 8,1-11)
Autor: Zwei Möglichkeiten wurden Jesus nahegelegt. Antwortet er wie das Establishment es gebietet, so verlangt er die Steinigung. Antwortet er als Sachwalter der eigenen Lehre, so lässt er sie laufen. Beides würde in der Katastrophe enden, beides würde ihn demontieren. Jesus schweigt zunächst, denkt in Ruhe nach und ändert dann die Blickrichtung: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ – Und alle ziehen davon. Das ist die Freiheit von der ich rede. Nicht als Staatsmann denken, nicht als Mann oder Frau der Kirche reden, sondern als ein Mensch mit der ganzen Empathie für den konkreten Mitmenschen, bezogen auf diese besondere Situation, so stehen wir in seiner Nachfolge.
Autor: Und so verharrt mein Blick bei dem je einzelnen Opfer des Krieges. Ich sehe die Leichen auf den Straßen von Butscha, höre von den Reisenden auf der Brücke zwischen Russland und der Krim, die von einer Bombe getötet wurden. Ich kenne die empörten Meldungen vom völkerrechtlich geächteten Streubombeneinsatz der Russen und ich höre, dass nun auch die Ukraine Streubomben wirft.
Wenn der Satz stimmt, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein darf, dann müssen wir als Christinnen und Christen andere Wege finden, um den Frieden in der Welt zu befördern, als nun ebenfalls auf immer neue Rüstungsprogramme zu setzen. Seit Jahren reden wir über die Unterfinanzierung unserer Schulen und plötzlich sind Milliarden da, um Waffen zu kaufen. An gebildeten, aufrechten, empathischen Menschen scheitern Diktaturen nachhaltiger als an Panzern. In die Entwicklung unserer Menschlichkeit muss investiert werden. Christinnen und Christen sehe ich als Protagonisten der kleinen Schritte, Brücken bauen, das ist unsere Aufgabe. Viel mehr hat Jesus übrigens gar nicht getan. Er hat einzelnen Menschen geholfen, er hat Gleichnisse und Geschichten erzählt, in denen der einzelne Mensch im Zentrum steht und er ist nicht zurückgewichen, als er bedrängt wurde. Das aber war so ungewöhnlich, dass es nachwirkt bis auf den heutigen Tag.
Autor: Mit ganz großen Gefühlen erinnere ich mich an die erste Silvesternacht nach dem Mauerfall auf der Oberbaumbrücke. Wir kamen aus Kreuzberg, Freunde von der anderen Seite aus Friedrichshain, wir prosteten uns zu und stießen auf eine gute Zukunft an, in der Zuversicht, dass der Ost-West-Konflikt nun Geschichte sei.
Der Sozialstaat, den es mit der Wende auch für den Osten gab, war nicht selten mit großen emotionalen Kränkungen verbunden. In der Rückschau erinnern sich viele an ihre beruflichen Erfolge in der DDR, denken an gute Alltagssituationen. Auch eine Sehnsucht nach Freiheit war da, deshalb sind sie ja 1989 auf die Straße gegangen, aber die Hoffnungen von damals sind für viele nicht wirklich in Erfüllung gegangen. Für einige aus meiner Klasse kamen Arbeitslosigkeit und sinnlose Umschulungen, die mehr der Statistik und staatlichen Selbstberuhigung dienten als ihrem beruflichen Wiedereinstieg.
Eigentlich sollte die so wunderbar sanierte Oberbaumbrücke ja den vollzogenen Brückenschlag zwischen Ost und West symbolisieren, in meinen Gesprächen habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, noch ist es nicht soweit. Noch herrscht Redebedarf und es braucht Hörbereitschaft und das auf beiden Seiten der Oberbaumbrücke.
Aber als Hoffnungszeichen habe ich auch hier die kleine Perspektive im Blick. Die Admiralsbrücke in Berlin-Kreuzberg zum Beispiel. An jedem Sommertag ist sie von Dutzenden Menschen belagert. Dort wird musiziert, geplaudert, man trinkt sein Bier, schaut genüsslich zu, wie die Sonne über dem Urbanhafen untergeht. Für die Anwohner ist dieses Treiben durchaus eine Herausforderung, aber für alle, die sich dort einfinden, ist es ein fröhliches Beisammensein, ein Austausch zwischen Kulturen und Generationen.
Über Brücken gehen, das bedeutet, andere Ufer kennenzulernen, Neues zu entdecken, sich dem Unbekannten, Überraschenden auszusetzen. Diese Erfahrung eines gelungenen Brückenschlages wünsche ihn Ihnen am heutigen Tag der Deutschen Einheit. Den gelingenden Brückenschlag zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen einstmals und heute.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Biermann, Titel: Ballade vom preussischen Ikarus
2. Karat, Maffay, Titel: Über sieben Brücken
3. Hanno Herbst, Titel: Herr gib mir Mut zum Brückenbauen
4. Fleming, Titel: Ein Lied kann eine Brücke sein
5. Simon und Garfunkel, Titel: Bridge over Troubled Water