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"Wie kann es sein", fragt die Lehrerin des Oberstufengymnasiums, als sie Deniz Ohde ihre Englischarbeit zurückgibt: bewertet mit 14 Punkten, eine glatte Eins. (1)
Wie konnte es passieren, dass die Begabung dieses Mädchens nicht vorher erkannt wurde? Stattdessen wurde die Tochter eines Industriearbeiters schon in der gymnasialen Orientierungsstufe ausgesiebt, wie es ihr damaliger Schulleiter gnadenlos formuliert.
Auf einer Abendschule hat Deniz Ohde ihren Realschulabschluss nachgeholt. Um die Aufnahme auf das Oberstufengymnasium hat sie fast betteln müssen. Woran lag es, fragt auch der Rektor. Sie weiß nicht, was sie antworten soll.
Ich habe mein Licht unter den Scheffel gestellt, (2)
sagt sie endlich, das leuchtet dem Rektor ein. Was sie nicht sagt: wie wenig Chancen sie von vorneherein hatte. Als Kind einer sogenannten bildungsfernen Familie, als Tochter einer türkischen Mutter. Diskriminiert. Worüber sie nicht spricht: über ihre Scham, ihr mangelndes Selbstvertrauen.
In ihrem Erstlingsroman "Streulicht" hat Deniz Ohde ihre Herkunft zum Thema gemacht. Heute ist sie eine preisgekrönte Autorin. Nicht viele haben das geschafft. Eine andere von ihnen ist Annie Ernaux. Sie hat für die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft sogar den Literaturnobelpreis erhalten.
Diejenigen, die ihr Handicap als Angehörige der sogenannten Unterschicht literarisch bearbeitet haben, geben Einblick in ein verfestigtes Klassensystem. Und in diesem sind die Chancen aufzusteigen sehr begrenzt. Armut oft vorprogrammiert.
Ja, der Klassenbegriff wird heute wieder verwendet. Auf ihre soziale Klasse festgelegt und streng voneinander geschieden: die Wohlhabenden, die Gebildeten... und die Armen, die ausgeschlossen sind von Bildung, gut bezahlten Berufen und gesellschaftlicher Teilhabe. Klassismus nennt man es, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer finanziellen Möglichkeiten entweder privilegiert oder eben: diskriminiert werden.
Es gibt viele Möglichkeiten, finanziell abzurutschen oder gar nicht erst aus der Armut herauszukommen. Menschen aus bildungsfernen Familien haben häufig lediglich die Aussicht auf schlecht bezahlte Berufe. Unter anderen sind Menschen mit Migrationshintergrund, alleinerziehende Mütter und chronisch kranke Menschen armutsgefährdet, - ebenso wie ihre Kinder. Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf
Die Gefahr der Altersarmut ist besonders für Frauen groß: Millionen Frauen werden weniger als 1000 Euro Rente beziehen, auch wenn sie 40 Jahre in Vollzeit gearbeitet haben. (3)
Eine große Resonanz erfuhr vor einem Jahr der Hashtag "Ichbinarmutsbetroffen", als Anni W. ihre Scham überwand und ihre Misere öffentlich machte:
"Hi, ich bin Anni, 39 und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht!" (4)
So schwer es die einen haben, so leicht haben es die anderen. Das ist die andere Seite der Medaille, die glänzende im reichen Deutschland: Jahr für Jahr werden Milliarden an Vermögen vererbt, 2020 waren es mit über 50 Milliarden Euro gar doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor. (5) Bei großen Unternehmen muss kaum Erbschaftssteuer gezahlt werden, was auch die Millionenerbin Marlene Engelhorn kritisiert:
"Wenn Sie dreißig Wohnungen erben (nebenbei: Wozu brauchen Sie überhaupt 30 Wohnungen?), dann zahlen Sie Erbschaftssteuer. Wenn Sie aber dreihundert Wohnungen erben, sind Sie automatisch eine Art Unternehmen und zahlen keine." (6)
Die Zahl der Millionäre hierzulande steigt. Die Industrie für Luxusgüter verdient prächtig. Im vergangenen Herbst war sogar von einem Engpass für teuren Champagner die Rede.
Kein Wunder, wenn die reichsten zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens besitzen, während die ärmere Hälfte der erwachsenen Bevölkerung gerade einmal drei Prozent des Gesamtvermögens hält. (7) Wer vermögend ist, den quälen auch erhöhte Energiekosten nicht.
Wie mühsam war es dagegen, das Bürgergeld für die Bedürftigen in Deutschland einzuführen. Und die 50 Euro mehr gegenüber der alten Hartz-IV-Gesetzgebung entsprechen nicht einmal dem Inflationsanstieg. (8)
Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist groß in Deutschland. Entscheidend sind dabei noch immer Faktoren, die der einzelne nicht beeinflussen kann: Herkunft, Einkommen und Bildungsstand der Eltern, Vermögen, Erbe. Reichtum wird vererbt, Armut auch. Und der Reichtum der einen hat mit der Armut der Anderen oft direkt etwas zu tun:
Erstmals seit einem Vierteljahrhundert nehmen laut der Organisation Oxfam extreme Armut und extremer Reichtum gleichzeitig zu. Konzerne und deren Eigentümer haben zudem von unterschiedlichen Krisen profitiert. So heißt es im Bericht "Survival of the Richest", zu deutsch: "Überleben der Reichsten": Weltweit würde jeder zehnte Mensch hungern. (9)
Die Armen finanzieren die Reichen: mit ihrer Arbeit, Mietzahlungen und dem lebensnotwendigen Konsum. Mittlerweile sind durch Inflation, stark steigende Mieten und Energiekosten auch Angehörige der Mittelschicht tendenziell armutsgefährdet. Für Wohlhabende wiederum gibt es genug Möglichkeiten der Steuervermeidung. Von ihrem Vermögen fließt nicht genug zurück in die Infrastruktur, die wiederum den Armen zugutekommen würde. (10)
Ein Gedicht von Bertolt Brecht fasst es zusammen:
"Reicher Mann und armer Mann stehen da und seh'n sich an.
Und der Arme sagte bleich: Wär' ich nicht arm, wärst du nicht reich." (11)
Ja, das wäre schön, wenn einer käme, der den Reichen nehmen und den Armen geben könnte. Wie: "Robin Hood". Robin Hood ist eine Sagengestalt, er hat nie gelebt. Die Erzählungen von ihm aber spiegeln die Sehnsucht wider: Einer muss den Armen Gerechtigkeit bringen. Als Kind in den 70er Jahren habe ich die Robin-Hood-Serie begeistert im Fernsehen verfolgt.
Allerdings war Robin Hood ein Gesetzloser. Seine Versuche der Umverteilung von den Reichen zu den Armen waren nicht legal. Doch die Idee wirkt nach: Bei einem so krassen Missverhältnis zwischen Arm und Reich muss es doch einen Ausgleich geben. Umverteilung, doch am besten per Gesetz: legal, seriös und sozial – das wäre sinnvoll.
Das Missverhältnis zwischen Arm und Reich ist alt. Schon die alttestamentlichen Propheten in der Bibel prangern die Ungerechtigkeit an, die Arme erleiden müssen. Auch damals schon waren das die Frauen: Witwen und Waisen; ihr gesellschaftlicher und finanzieller Status war unsicher. Ebenso gefährdet waren sogenannte Fremdlinge.
"Was ihr den Armen geraubt habt, ist in eurem Hause!" (Jes, 3,14)
So wettert der Prophet Jesaja bereits im 7. Jahrhundert vor Christus. Der Prophet kritisiert Reichtum, der unrechtmäßig erworben wurde: wenn Vermögende ihre Macht ausnutzen, sich auf Kosten der Schwächeren bereichern. Weinberge, Häuser und Felder hätten die Mächtigen an sich gerissen, so klagen die Propheten. Die Bibel fragt nach der Herkunft des Reichtums, kritisiert, wenn er gewaltsam angeeignet wurde. Reichtum an sich wird in der Bibel nicht angegriffen.
Aber schon in ganz früher Zeit, vor mehr als 3000 Jahren, gab es Bestrebungen, die Armen in der Gesellschaft gesetzlich zu schützen. Das 5. Buch Mose erwähnt eine Art "Sozialsteuer" der Vermögenden zur Unterstützung für Bedürftige (Dtn. 14,28f). Nach der biblischen Anordnung sollen alle drei Jahre zehn Prozent des Jahresertrags der Reichen für die Armen zurückgelegt werden:
"Der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben, … sollen essen und sich sättigen, auf dass dich der Herr, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust."
Wer seinen Reichtum teilt mit den Bedürftigen, soll auch gesegnet sein mitsamt seinem Reichtum. (12)
Auch im neuen Testament gibt es Kritik am ungerechten Reichtum. Jesus warnt in der Bergpredigt:
Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. (Mt 6,24)
Mammon bedeutet, dass "Geld eine Funktion bekommt, die über die des Rechnens und Tauschens hinausgeht" und "zu einer alles bestimmenden Wirklichkeit mutiert". Man kann es auch Habgier nennen (13) : "Das Gesetz des Geldes, der Mammon, herrscht dann, wenn die permanente Geldvermehrung" zum obersten Ziel wird.
Hier setzt auch die Kritik von Marlene Engelhorn an: Die Millionenerbin zählt zu den Überreichen, und sie setzt sich dafür ein, dass Vermögende höher besteuert werden, dass gewissermaßen das Gesetz des Mammons gebrochen wird:
"Überreichtum … ist ein Zuviel, es ist ein Zuviel in privater Hand, das dort nicht hingehört, zumindest nicht in einer demokratischen Gesellschaft, an der ich aber teilhaben will." (14)
Engelhorn ist Mitgründerin des Vereins "taxmenow", auf deutsch "besteuere mich jetzt" - einer Initiative von Vermögenden aus dem deutschsprachigen Raum, die sich für Steuergerechtigkeit einsetzt.
"Denn Steuern sind das absolut Demokratischste, was man machen kann, um zurückzugeben" - so dass ein gewähltes Parlament demokratisch darüber entscheiden kann, wie diese Mittel verwendet werden sollen." (15)
Das fordert die Millionenerbin. Damit verabschiedet sich Engelhorn von dem Prinzip des "Immer mehr", zugunsten einer Gesellschaft, in der alle am Reichtum der Reichen teilhaben sollen. Das ist ein anderes Prinzip als das von Robin Hood. Umverteilung funktioniert erst dann, wenn die Vermögenden von sich aus bereit sind, ihren Reichtum zu teilen. Oder wenn es gesetzliche Grundlagen gibt.
Wie hieß es noch im 5. Buch Mose, vor über 3000 Jahren: Wer bereit ist, seinen Reichtum zu teilen mit den Bedürftigen, der soll mitsamt seinem Reichtum gesegnet sein.
Diese Idee des Segens für Reich und Arm ist alt. Die noch relativ junge Bewegung "taxmenow" ist ein Weg dahin, dass dieser Segen sichtbar wird. Noch sieht es nicht danach aus.
Ich bin es leid. Die Nachrichten reißen nicht ab: über den steigenden Reichtum, Übergewinne, den Überreichtum der einen und die zunehmende Not und Benachteiligung der anderen.
Das Ziel ist klar, aber so vieles muss getan werden:
- Mädchen wie Deniz Ohde zu fördern,entsprechend ihrer Begabung, auch wenn ihr Vater sein Geld als Industriearbeiter verdient,
- Menschen, die in Armut leben stärker zu unterstützen: mit Gesetzen und dem Recht auf einen demokratischen und sozialen Umgang - gerade weil die Armen keine Lobby haben,
- diejenigen stark zu machen, die in den Mietblöcken des viel zu knappen sozialen Wohnungsbaus das Vertrauen in die Gesellschaft genauso verloren haben wie jegliches Selbstvertrauen: gerade sie zu beteiligen an den demokratischen Prozessen
- die Begüterten, Vermögenden, Reichen und Überreichen mehr zu beteiligen an der sozialen Verantwortung, weil Eigentum verpflichtet
- die gesetzlichen Möglichkeiten in diesem Land auszuschöpfen, auch bei der Erbschaftssteuer. Noch einmal Marlene Engelhorn:
"Es gibt nicht einen einzigen belegten Fall, wo eine Erbschaftssteuer ein Unternehmen kaputtgemacht hätte." (16)
Breites Engagement ist notwendig. Es geht nicht ohne den Willen, dieses gesellschaftliche Problem zu lösen. Es geht alle an.
Eine Orientierung dafür sind schon die Forderungen, die seit über 3000 Jahren in der Bibel zu finden sind:
Wenn der Reichtum der einen den Armen ein lebenswertes Leben ermöglicht, dann sind beide gesegnet, arm und reich. Das wäre ein Segen für alle.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Jack Frank: Embrace you, CD Titel: Wordless Vocals, Track Nr. 1.
- Geoff Bastow: The Inheritance, CD-Titel: Daytime Drama 2, Track Nr. 41.
- Christopher White: Boardroom Challenge, CD-Titel: Fact ent prestige & luxury 2, Track Nr. 15.
- Dick Walter: Mood in Blue, CD-Titel: Small Group Jazz, Track Nr. 6.
- Ken Miller: Amazing Grace, CD-Titel: Amazing Grace, Track Nr. 1.
Literaturangaben:
- Deniz Ohde: Streulicht, Berlin 2020, S. 180.
- Deniz Ohde: Streulicht, Berlin 2020, S. 167.
- Vgl. Tagesschau, 15.01.23.
- Vgl. WA 4.1.2023.
- Vgl. Statistisches Bundesamt von 2021, nach Süddeutsche vom 25.8.2021.
- Vgl. zeitzeichen 10/22, S. 39.
- nach Angaben des DIW von 2019, mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens: 56 Prozent, die ärmere Hälfte der Bevölkerung: 1,3 Prozent.
- Süddeutsche 29.11.22, Ronen Steinke, Armes Deutschland.
- Vgl. Tagesschau, 16.01.2023.
- Anja Krüger zeitzeichen 10/22, S. 30.
- B. Brecht, nach zeitzeichen 10/22.
- Vgl. Franz Segbers, zeitzeichen 10/22, S. 28ff.
- zeitzeichen 10/22 S. 29.
- zeitzeichen 10/22 S. 38.
- zeitzeichen 10/22 S. 36.
- zeitzeichen 10/22 S. 39.