Morgenandacht
Das Böse überwinden
23.09.2015 06:35

Manchmal höre ich morgens im Radio die ersten Nachrichten und möchte am liebsten gleich wieder abschalten. Schon wieder ein Selbstmordattentat mit vielen Toten. Wie kann es sein, dass ein Mensch sein Leben dafür einsetzt, möglichst viele andere umzubringen? Ich höre, dass an den viel zu vielen Kriegsfronten die Kämpfe weitergehen. Wie kann es sein, dass irgendwelche Anführer Krieg und Zerstörung wichtiger finden als Leben und leben lassen? Ich höre, dass wieder ein junger Mensch attackiert und übel zugerichtet wurde – ohne jeden ersichtlichen Anlass.

 

Manchmal kann ich das kaum aushalten: so viel Böses. Und dieses Böse hat so viel Macht. Manchmal habe ich das Gefühl: Terror, Gewalt, Menschenverachtung breiten sich immer mehr aus. Und ich frage mich: Was habe ich dem entgegenzusetzen? Bleibt mir nur, abzuschalten und wegzusehen, um das alles nicht mehr mitzukriegen?

 

In der Bibel lese ich den Rat: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Kann das gehen? Das Böse mit Gutem zu überwinden?

 

Es ist so: Menschen neigen eher dazu, die zu imitieren, die sie für groß und stark halten. Die Vorstellung, selbst stark zu sein, Macht zu haben, fasziniert; gerade die, die schwach sind. Genau wie der Wunsch, sich zu rächen: Was mir einer getan hat, das will ich ihm auch antun. Wenn ein Gewaltverbrechen vor Gericht verhandelt wird, rufen Angehörige und Medien schnell nach Rache. Auch im Krieg ist Vergeltung ein wichtiges Motiv. Gewalt wird wieder mit Gewalt beantwortet. Schlag mit Gegenschlag, Raketen hier, Luftangriffe da. Tote und Trauernde auf beiden Seiten. Racheschwüre und Vergeltungsmaßnahmen.

 

Was passiert da? Wer genauer hinsieht, findet auf beiden Seiten Menschen, die einen tiefen Schmerz in sich eingeschlossen haben. Einen Schmerz, der kaum zu ertragen ist. Ausgelöst vom Tod eines geliebten Menschen, von bedrohten Lebensgrundlagen oder tiefen Demütigungen. Solcher Schmerz ruft Wut hervor, Zorn, den Wunsch nach Rache. Das wirkt wie der Versuch, den eigenen Schmerz auf andere abzuwälzen – als ob man ihn auf diese Weise loswürde. Das Gegenteil ist der Fall. Leid gebiert auf diese Weise immer nur neues Leid. Böses zeugt wieder Böses.

 

Wie kann dieser Kreislauf unterbrochen werden? „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ – so empfiehlt es der Apostel Paulus. Das kann er sagen, weil er als Christ weiß: niemand muss seinen Schmerz und seine Schwäche alleine tragen. Paulus weiß: Da ist einer, der das alles kennt und mitträgt. Jesus Christus hat vorgelebt, was die Macht des Bösen bricht: Güte. Barmherzigkeit. Liebe. Es sind diese nur scheinbar schwachen Kräfte, die die Macht des Bösen überwinden.

 

Menschen, die diese Kräfte aufgreifen und sich davon stärken lassen, bringen etwas Neues in die Welt. Einen Impuls, der gegen die Spirale der Vergeltung wirkt. Eine Umkehrung der destruktiven Kräfte. Paulus sagt es ganz konkret: „Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken.“ Niemand kann das perfekt umsetzen – wer könnte das auch durchhalten? Aber es geht, von Fall zu Fall etwas Neues zu probieren, eine Alternative zu sehen und zu finden zur eskalierenden Gewalt. Das Konzept der Feindesliebe setzt darauf, dass sich Feinde verändern, wenn ich damit anfange.

 

Ich bin sicher, es geht: das Böse mit Gutem zu überwinden. Und manchmal höre ich auch solche Nachrichten: Die Mutter, deren Sohn starb, nachdem er von anderen Jugendlichen ins Koma geprügelt worden war, hat die Täter im Gefängnis besucht. „Ich wollte, dass sie wissen, was sie mir angetan haben“, sagte sie. „Und ich wollte ihnen sagen, dass ich ihnen vergeben habe. Sie sollen nicht ihr ganzes Leben auf diesem Weg weitergehen.“

 

Manchmal finden Menschen die Stärke, der Rache keinen Raum zu geben. Manchmal wächst aus dem Schmerz eine stille Kraft. Manchmal überwindet jemand das Böse mit dem Guten.