Am Sonntagmorgen
unsplash.com
Im Bann der Bilder
Virtuelle Welt, realer Jesus
29.11.2015 07:35

Ich stehe im Kolosseum in Rom, so wie viele Touristen. Nur ist mein Platz mitten in der Arena. Die Tribünen sind gefüllt bis auf den letzten Platz. Die Menge tobt und schreit. Und dann höre ich durch den Lärm hindurch ein stoßweises Atmen. Ganz nah. Direkt hinter mir. Ich drehe mich um. Und da steht er: ein Gladiator. Ein Bär von einem Mann und bereit, mich anzugreifen. Wie wehre ich mich gegen ihn? Ich nehme meine Brille ab.

Denn diese Szene ist das Ergebnis der modernen Technik. Eine Illusion, wenn auch täuschend echt. „Immersiver Film“ oder 360-Grad-Film — das ist technisch gesehen das Neueste, was bewegte Bilder im Jahr 2015 werden können. Noch gibt es diese Technik nur für kleine, begrenzte Projekte und man muss eine etwas klobige Datenbrille tragen. Aber das Ergebnis ist jetzt schon faszinierend. Es erinnert an das Holodeck  aus der Serie Star Trek – The next Generation. Jean-Luc Picard und seine Crew betreten einen leeren Raum, sagen „Computer! Schweizer Alpen, eine Alm auf 2000 Meter Höhe“ - und dann stehen sie genau dort,  im Schnee und die Täler zu ihren Füßen. Bis heute ein attraktiver Traum.

 

Ich habe kein Holodeck, aber eine kostenlose App für mein Smartphone, und das gibt mir einen Vorgeschmack. Eine Halterung schirmt das Handy vom Umgebungslicht ab und fixiert das Display vor dem Auge. Und schon ist es so weit: ich stehe ich am Rand eines Vulkankraters. Hebe ich den Kopf, sehe ich den Himmel, senke ich ihn, läuft vor meinen Füßen die Lava, drehe ich mich um, sehe ich, wie sie aus dem Vulkan heraus in ein Tal fließt. Und dann ist der Spuk schon wieder vorbei - die Szenen sind kurz, und ich stehe wieder im Wohnzimmer. Es gibt sogar erste Vergnügungsparks, die diese Brillen auf einer Achterbahnfahrt einsetzen. Ältere Bahn-Modelle sind schon etwas langsam und bieten nicht die neuesten Loopings und Sturzflüge. Aber sie können mit der virtuellen Realität erheblich aufgepeppt werden.  Die Beschleunigung, die Kräfte, die am Körper zerren, der Wind in den Haaren - alles echt. Aber statt Stahlträger zu sehen und Achterbahnmechanik, sieht man sich auf einem chinesischen Drachen in die verbotene Stadt in Peking reiten. Die Bilder folgen exakt der Bewegung der Achterbahn, sonst würde einem übel werden. Wenn der Körper meldet, dass es scharf rechts in die Kurve geht, muss das Auge die Bewegung auch sehen. Zusätzlich passen sich die Brillen auch den Bewegungen des Kopfes an - die Brille weiß genau, ob der Achterbahnfahrer nach oben oder unten schaut, links oder rechts - und sendet die exakt passenden Eindrücke. Diese Eindrücke tricksen den Verstand komplett aus: Der beginnt zu glauben, dass er wohl jetzt auf einem Drachen sitzt. Diese Technik ändert unsere Welt komplett: Wir tun und erleben einerseits exakt dasselbe wie vorher: Eine schlichte Achterbahnfahrt. Andererseits erleben wir zusätzlich etwas bis dahin völlig irreales und unmögliches - einen ziemlich lebensechten Ritt auf dem Drachen. Es hat sich nicht wirklich etwas verändert, nur unser Blick auf die Umwelt ist ein ganz anderer geworden.

Etwas Vergleichbares passiert gerade in unseren novembergrauen Städten. Etwas virtuelle Realität zieht ein - auch nicht wirklich Holodeck-reif, aber deutlich spürbar …

Heute ist der erste Advent. Aber das Adventsgefühl hat sich bei den meisten noch nicht eingestellt. „Bist Du schon in Stimmung?“ fragen viele sich gegenseitig. „Kein bisschen,“ ist die häufige Antwort. Wenn beim Shopping das erste Mal „Last Christmas“ von Wham aus den Kaufhaus-Lautsprechern säuselt, jagt es einen Schrecken ein. Wenn dann im Einkaufskorb Spekulatius, Marzipan-Kartoffeln und erste Weihnachtsgeschenke liegen, kommt es vielen von uns jedes Jahr aufs Neue zunächst wie eine Art der Selbstbeeinflussung, eine Autosuggestion vor. Ich kaufe nicht Spekulatius, weil Advent ist, sondern es wird Advent durch meine Einkäufe. Wir machen uns unsere eigene virtuelle Realität. Und wir haben auch einen Weg, um mit der Stadt im November fertig zu werden. Eben noch sind die Straßen trist und grau. Und dann – „Licht an!“ Weihnachtsbeleuchtung in allen Farben, und bunte Buden, zwischen denen es nach Bratwurst und Glühwein riecht. Vor die grauen Straßen schiebt sich ein neues Bild, und plötzlich wirkt der leichte Niesel nicht mehr so schlimm – die Welt tickt etwas anders. Und dann fängt auch der Advent an, sich real anzufühlen. Der Weihnachtsglitzer, die Schaufenster in Rot und Gold und Grün - das tsching-tsching-tsching in jedem Lied, das von irgendwo aus einem Lautsprecher kommt. Na klar - ein wenig ist es auch eine Manipulation. Wir wollen nicht nur selbst in Stimmung kommen, wir werden auch von außen beeinflusst. Im Advent machen Händler einen erheblichen Teil ihres Jahresumsatzes. Das ist schon eine große Veränderung unserer Wahrnehmung, aber doch nicht vollständig.

Um im Film-Bild zu bleiben: Ein wenig ist der Weihnachtsmarkt wie ein 3D-Film im Kino. Die 3D-Technik ist inzwischen zum Standard geworden. Im Kinosessel sitzen wir Zuschauer optisch mitten auf dem Mars. Im „Jurassic Park“ scheint der Dino aus der Leinwand heraus auf uns zuzuspringen. Aber wir sitzen doch sicher in unserem Sessel. Nüchtern betrachtet passiert weder beim Film noch in der Advents-City wirklich viel: Das Bild verändert sich nur leicht. Das Holodeck, die virtuelle Realität, das ist etwas anderes, weil wir das Bild nicht mehr ansehen, sondern in das Bild hineintreten. Wir sehen uns nicht mehr ein Weihnachtswunderland an, wir werden ein Teil davon, wie beim Holodeck. Und unsere Optik bestimmt unsere Gefühle, von Grund auf. Ein schlichter Weihnachtsmarkt hübscht die Realität schon auf. Der Glanz der Lichter liegt auf Asphalt und grauen Kaufhausfassaden. Das ist für viele Menschen schön und es weist auch auf Weihnachten hin, auf Jesus, das Licht der Welt. Aber es gibt auch andere Bilder von Weihnachten, und vielleicht verändern sie unsere Wahrnehmung noch grundlegender.

 

 

Lichterketten, geschmückte Tannenbäume, Kerzen – das sind die Bilder vom Advent. Auf den Märkten wirken sie, als ginge es an Weihnachten genau darum, Gemütlichkeit und Wärme. Aber das Zentrum des Marktes ist nicht der Glühweinstand, auch wenn dort der größte Andrang ist. Das Zentrum steht bei vielen Weihnachtsmärkten eher am Rand. Eine Krippenszene. Sie ist so etwas wie ein „Holodeck“ in der Holzschnitz-Version. Wer vor einer großen Krippe steht, befindet sich ja bereits fast im Geschehen. Auch wenn es etwas statisch ist. Aber das ließe sich ja ändern: Genauso, wie wir uns mit einer 360-Grad-Brille ins Kolosseum oder an den Kraterrand des Vulkans stellen können, könnte man auch einen „Immersiv-Film“ machen, der uns als Zuschauer in den Stall von Bethlehem beamt. Und was  würden wir dort sehen? Einen Stall vor 2000 Jahren mit einem Ochsen, einem Esel, einer Futterkrippe in der ein Neugeborenes liegt. Wenig Lichterfunkeln, wenig Gefühliges, nur hartes Leben, wahrscheinlich Dreck, Windeln, prekäre Umstände, ein hilfloses Baby. Genau wie die 360-Grad-Brille auf der Achterbahn ändert dieses Krippenbild den Weihnachtsmarkt und lässt ihn durchlässig werden für eine andere Realität.

 

Christen kennen diese Spannung zwischen der vorfindlichen, berührbaren Realität und einer Transzendenz und die Durchdringung dieser beiden Sphären. Transzendenz - das meint die Erfahrungen, die man nicht anfassen oder sehen kann, die aber trotzdem vorhanden sind. Ein Gespür. Ein Bild, in das man hineintreten kann. Also liegt auch ohne Brillen für virtuelle Realität über unserer sichtbaren Welt eine virtuelle, zweite Ebene. Eine vermeintlich unsichtbare Welt, ein überlagerndes Bild.

 

 

Ein schönes Beispiel dafür, wie unser Erleben auch das Unsichtbare hinzufügt, ist die Deadline. Deadline heißt wörtlich „Todeslinie“. Ursprünglich bezeichnet dieses Wort keinen Zeitpunkt, sondern stammt der aus den amerikanischen Sezessions-Bürgerkriegen in den 1860er Jahren. Die Nordstaaten und die Südstaaten kämpfen gegeneinander, es geht um die Abschaffung der Sklaverei. Es werden Gefangene gemacht. Aber Gefängnisse gibt es nicht, auch können irgendwo im Nirgendwo nicht so schnell Palisaden oder Zäune errichtet werden. Also ritzen die Sieger einen Kreis in den Boden; eine Linie im Staub, die so leicht verschwindet, wie sie gezogen wird. Hier und da ein Holzstecken als Markierung - und dann versammeln die Sieger ihre Gefangenen in der Mitte. Wer von ihnen über den Strich geht, wird erschossen. Eine tatsächliche Todeslinie, die Deadline. Das Bild der Gefangenen von der Wirklichkeit ist so manipuliert, dass für sie diese Linie völlig unüberwindlich wird. Ihre eigenen Blicke bauen ihre Mauern. Denn jeder Gefangene weiß: Die Linie ist da. Und sehr real.

Ungefähr so stelle ich mir dieses christliche, transzendente Adventsgefühl vor, das den Glühweinmarkt von der Krippe her überlagert. Über all dem Treiben, in dem wir stehen, liegt die Realität des gerade erst Mensch gewordenen, neugeborenen Gottes, der menschliche Hilfe braucht. Das Bild des allmächtigen Weltenherrschers, das es auch gibt, spielt in diesem Advents- und Weihnachts-Teil der Bibel keine große Rolle. Sich um den Säugling - um die Schwächsten- kümmern: Deswegen wird gerade jetzt im Advent und an Weihnachten gerne und häufig großzügig gespendet. Die Empathie, die Zugewandtheit der Adventszeit sind inspiriert vom Bild des Kindes in der Krippe. Wie wir unsere heutige  Welt, unsere Stadt, unsere Familie, den Weihnachtsmarkt oder unsere Kirchengemeinde sehen - das hängt von unserer Brille ab, durch die wir sehen. Sehen wir ängstlich eine Welt voller Deadlines, die wir nicht übertreten dürfen? Vielleicht tragen wir ja ab heute die Brille der Adventszeit, in der die Welt einen eigenen Glanz hat, in der Mauern verschwinden. Bei vielen sorgt diese Adventsbrille ja tatsächlich dafür, dass sie plötzlich hilfsbereiter werden, vielleicht beim Geschenkekauf spendabler, vielleicht eine Spende an Diakonie oder Caritas. Vielleicht ist die Adventszeit ja sogar die Zeit, die die eigentliche himmlische Realität aufscheinen lässt. Jetzt sehen wir sie mal vier Wochen lang besser - gewissermaßen dank der 360-Grad-virtuelle-Welt-Brille. Aber sie ist auch in den restlichen elf Monaten des Jahres da, diese Brille, die wir uns aufsetzen könnten - und die das manchmal graue und harte Bild unserer Welt überlagert mit dem Bild des Gottes in Babygestalt, der Hilfe braucht und uns Menschen warm und offenherzig macht.

 

 

 

 

Musik dieser Sendung:

(1) Jingle Bells, Engelrausch, Martin Wagner & Hanns Höhn

(2) Crazy Christmas, Engelrausch, Martin Wagner & Hanns Höhn

(3) Ihr Kinderlein kommet, Engelrausch, Martin Wagner & Hanns Höhn

(4) Carribean Cling Clong, Engelrausch, Martin Wagner & Hanns Höhn