Am Sonntagmorgen
Glaube ist kein Schmetterling
Reformation und zeitgenössische Literatur
29.05.2016 08:35

 

Sendung zum Nachlesen

Dass aus der Raupe ein Schmetterling wird, ist ein altes Sinnbild dafür, dass das Lebendige im Menschen den eigenen Tod überlebt. Die Überreste der Raupe gehen dahin, während der Schmetterling davonfliegt. Auch die christliche Erbauungsliteratur kennt dieses Bild. Es wird aber der Wirklichkeit des Todes und der Verwesung genauso wenig gerecht wie dem Lebenshunger des menschlichen Bewusstseins. Deshalb wohl wendete sich die Schriftstellerin Gabriele Wohmann (1932-2015) gegen das Bild des Schmetterlings, als sie über ihren evangelischen Glauben im Angesicht des Todes sprach. In dem Band „Sterben ist Mist, der Tod aber schön“ sagt sie:

 

„Ich will kein Zitronenfalter werden, davon habe ich nichts.“

 

Der Glaube ist kein Schmetterling. Was aber ist er dann? Es sind Gedanken und Einsichten der Reformation, die Gabriele Wohmann entfaltet:

 

„Wem der Glaube in Christi Werk aufleuchtet, … der findet alles, was Gott für ihn getan hat. (…) Es geht nicht darum, vor Gott zu bestehen, es ist allein der Glaube, durch den ein Mensch vor Gott gerechtfertigt wird.“

 

Diesen in geradezu klassischem Theologendeutsch gehaltenen Satz – Gabriele Wohmann war Pfarrerstochter – ergänzt sie mit der erhellenden Bemerkung:

 

„Ziemlich schwierig, sich vom Gedanken zu verabschieden, man verdiene sich Gottes Applaus mit Werken, die ihm gefallen.“„Diese Einsicht verhält sich konträr zum heutigen Leistungsdruck.... Schluss mit der Suche nach dem Weg zu Gott, Gott hat den Weg zum Menschen gefunden.“

 

Dieser letzte Satz, „Gott hat den Weg zum Menschen gefunden“, enthält das gesamte Programm der Reformation, die durch Martin Luther ins Rollen kam. Auf der Suche nach Reflektionen dieses Programms in der modernen Literatur wird man natürlich fündig bei Autoren, die sich als Christen verstehen, so bei Kurt Marti, Armin Juhre und anderen. Auch Autoren, die sich am Rande des christlichen Spektrums bewegen, artikulieren sich gern in diesem Sinne, wie zum Beispiel Martin Walser. Interessanter wird es jedoch dann, wenn man diese Grundaussage der Reformation als Strukturprinzip des Denkens und Glaubens begreift, das losgelöst von althergebrachten Worten eine grundsätzliche menschliche Befindlichkeit zur Sprache bringt.

Dieses Strukturprinzip hat zwei Konstanten: Erstens hat der Mensch seine Existenzberechtigung nicht durch das, was er tut, sondern dadurch, dass er existiert; das zu erkennen, macht ihn frei. Zweitens erschafft er sich das, was er zum Menschsein braucht, sei es geistiger, sei es seelischer Art, nicht selbst. Er erhält es sozusagen von außen, als Geschenk, theologisch gesagt: aus Gnade. Bringt man den Grundgedanken der Reformation auf diese beiden Nenner, kann man erstaunliche Entdeckungen im Spektrum gegenwärtiger Literatur machen.

 

Ein Roman, der für etliche Aufregung sorgt, ist das Buch Frank Witzels (*1955) mit dem Titel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Dieses Buch ist ein irrwitziges Kaleidoskop verschiedenster literarischer Formen, ein sagenhaftes Durcheinanderwirbeln von Zeiten und Ereignissen. Auch das Christentum wird breit geschildert, zumeist in seiner katholischen Form, und wohl kaum zum Ruhm des christlichen Glaubens. Und dann, nach vielen hundert Seiten, kommt die erstaunliche Aussage einer Frau, man weiß nicht genau, ist sie im Gefängnis, hat sie sich selbst verletzt?:

 

„Wunde, wenn schon übersetzt, müsste das Zugefügte heißen. Weil sie das Äußere mit dem Inneren verbindet. Weil sie das Äußere durchschlägt. Inneres wird. Ohne eigenes Zutun. Das ist das Wunderbare. Man kann es nicht wollen. Selbst wenn man es noch so sehr will. Man kann es nicht provozieren. Selbst wenn man die Wärter anschreit. Selbst nicht durch Selbstkasteiung. Selbstverstümmelung. Selbstaufgabe. Selbstmord. Weil es dabei immer noch um das Selbst geht. Man kann nicht mit Hilfe des Selbst selbstlos werden. Das ist das Wunderbare.“

 

Es ist nicht weit hergeholt, wenn man Wunden und Glauben miteinander in Beziehung setzt. Die tödlichen Wunden des Religionsstifters Jesus Christus sind wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens. Denkt man bei dem Text Frank Witzels also den Glauben mit, wenn er von Wunden spricht, wird er zu einer geradezu klassisch wirkenden Auslegung des Reformationsgedankens: Man kann sich den Glauben nicht selbst zufügen; wenn man es versucht, wird man immer bei sich selbst bleiben. „Man kann nicht mit Hilfe des Selbst selbstlos werden“. Diese Hilfe, so kommentiere ich den Autor, muss von außen kommen. Es ist ein kleiner Schritt, jetzt nach dem Woher der Selbstlosigkeit zu fragen und über dieser Frage bei der Gnade Gottes zu landen – ein Schritt freilich, den Frank Witzel nicht tut.

Der Titel einer Sammlung von Lyrik aus dem 21. Jahrhundert, also der unmittelbaren Gegenwart, spricht für sich: Lied aus reinem Nichts. Darin äußert sich bereits ansatzweise die Struktur der Reformation: Nichts habe ich beizutragen zu einem endgültig gelingenden Leben; alles ist Geschenk und Gnade, auch dass ich in diesem und aus diesem Nichts noch Lieder zu singen weiß, „Lieder“, wie der Dichter Paul Celan (1920-1970) einmal sagte, „jenseits des Menschen“.

Dazu passt ein Sechszeiler von Hans Arnfrid Astel:

 

Die Angst / vor dem Nichts /nachts. // Angesichts / des Lichts // ist sie nichts“.

 

Da überfällt das lyrische Ich also des Nachts die Angst vor dem Nichts, also vor dem Tod. Das kennt jeder, der sich schlaflos im Bett wälzt. Und dann kommt das Licht, ohne Zutun des sich ängstenden Schlaflosen, und erlöst ihn von der Dunkelheit und damit von der Angst. Das ist beileibe kein christliches Gedicht; Astel würde sich wehren gegen diese Unterstellung. Aber es verwirklicht eine reformatorische Struktur, nämlich dass die existentielle Angst nicht durch Leistungen überwunden wird, die ein Mensch zu erbringen hat, sondern durch das von außen zu ihm kommende Licht. In christlicher Interpretation wäre dies das Licht des Evangeliums; aber das würde Astel sicherlich abwehren. Am Rande sei vermerkt, dass Arnfrid Astel zusätzlich den Vornamen Hans annahm, nachdem sein Sohn Suizid begangen hatte – eine Dunkelheit, die tiefer kaum sein könnte. Vielleicht ist das Gedicht eine Reaktion auf diese Dunkelheit.

 

Ein dichtes Zeugnis für die Struktur der reformatorischen Grundeinsicht bietet auch ein schon älteres Gedicht der Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral (1889-1957). Es ist das Gedicht „Scham“.

 

Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau. / Wenn ich zum Fluss hinuntersteige, / erkennt das hohe Schilf mein sel’ges Angesicht nicht mehr.

 

Gabriela Mistral meint mit diesem Du oberflächlich gesehen natürlich ihren Liebhaber. Das Gedicht greift aber viel tiefer als nur in die Gefühlswelt einer verliebten jungen Frau gegenüber einem Mann. Das wird im Fortgang des Gedichtes deutlich. Denn sich selbst findet das lyrische Ich des Gedichtes nicht schön:

 

Ich schäme mich des tristen Munds, / der Stimme, der zerriss’nen, meiner rauen Knie. / Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest, / fand ich mich arm, fühlt’ ich mich bloß.

 

Der Blick auf sich selbst vor den Augen des Geliebten enthüllt also einen tristen Mund, raue Knie, Armut und Nacktheit. Schön ist das nicht, es ist zum Schämen. Es mag überraschen, aber diese Scham gehört unmittelbar zum Strukturprinzip der Reformation. Der Mensch hat so lange Grund zur Scham, wie er sich nur selbst anschaut. Das ist eine unbequeme Einsicht, gewiss; die Reformatoren nannten das die Sünde – ein Wort, das heute unpopulär ist und doch eine menschliche Grundbefindlichkeit ausdrückt. Die lautet: Ich habe aus mir selbst keinen Wert; ich muss mir meinen Wert erst schaffen, ugnd wenn ich das nicht kann, habe ich keinen Grund zum Dasein.

Keinen Grund zum Dasein haben, das ist eine mögliche Definition für Scham. Im Gedicht wird das lyrische Ich liebenswert und lebensmutig erst durch den Blick von außen: „Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön“. Dieser Blick von außen ist nicht machbar, nicht herstellbar, es ist der Blick der Liebe. In diesem Blick empfindet die Geliebte ihre Existenzberechtigung und strahlt darüber vor Freude.

 

Die Nacht ist da. Aufs Riedgras fällt der Tau. / Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich zärtlich durch dein Wort. / Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt, / die du geküsst, von Schönheit strahlen.

 

In diesem Vers wird deutlich, dass die Frau, die sich im Gedicht äußert, die Schönheit annimmt, die sie in den Augen ihres Geliebten bekommen hat. Sie ist nicht mehr auf sich selbst fixiert, auf ihre rauen Knie und ihren verbitterten Mund, sondern sie blüht auf in neuer Pracht. Sie bleibt dieselbe Frau, die sie immer war, und ist doch völlig verändert durch eine Liebe, die sie sozusagen schicksalhaft ereilt, ohne dass sie diese Liebe vorher erahnt hätte, ohne dass sie sie selbst herbeigeführt hätte. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass ihr Lied an den Geliebten in Wirklichkeit ein Lied an Gott ist – jeder menschliche Liebhaber wäre mit diesen Worten weit überfordert. Gabriela Mistral singt ihr Liebeslied Gott zu und preist damit seine Liebe, eine Liebe, mit der Gott sie anschaut und unter der sie, die schamerfüllte und Leid tragende, schön wird. Darin kommt die Struktur der reformatorischen Grundeinsicht in zärtlicher Empfindsamkeit zum Ausdruck: Gott sieht den Menschen liebevoll an, der unter seinem Blick in vollendeter Schönheit erstrahlt.

So und nicht anders wird aus der Raupe der Schmetterling. Dennoch aber ist der Glaube mehr als ein Schmetterling. Denn wenn der Schmetterling erscheint, ist die Raupe hinfällig. Wenn aber im Glauben der liebende Gott begegnet, entdecken und entwickeln Menschen ihre göttliche Schönheit unter der Maske der irdischen Unvollkommenheit. Wir werden Schmetterling und bleiben Raupe, wir werden schön – und das mit rauen Knien und tristem Mund. Wir dürfen bleiben, was wir sind und empfangen uns neu aus Gottes Hand.