Anfang März wäre Moidele Bickel 80 Jahre alt geworden und man hätte sie gedrängt, dies ganz groß zu feiern. Moidele Bickel war die „Grande Dame“ unter den deutschen Kostümbildnerinnen und ihr Name hat Klang weit über die deutschen Grenzen hinaus. Den Figuren auf der Bühne Gestalt zu geben, war ihr großes Talent. Regisseure wie Claus Peymann, Peter Stein, Robert Wilson, Michael Haneke wussten das zu schätzen und arbeiteten gern mit ihr zusammen. Es ließe sich eine lange Liste von Inszenierungen aufzählen, denen Moidele Bickel mit ihrer Ausstattung einen Stempel aufdrückte.
Doch das alles verlor an Bedeutung, als sie am Karfreitag vergangenen Jahres die Nachricht bekam, dass sie Krebs hat. Moidele sprach von dem Monster in ihrem Bauch, das ihr nach dem Leben trachtete. Sie ließ sich sehr genau über ihre Genesungsaussichten und die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Todes informieren. In einem sehr bewegenden Augenblick traf sie die Entscheidung, keinen ihr aussichtslos erscheinenden Kampf zu führen, sondern ihr Sterben anzunehmen und ganz bewusst auf den Tod zuzugehen.
Dafür blieben ihr ziemlich genau fünfzig Tage, die fünfzig Tage zwischen Ostern und Pfingsten. Und alle, die dabei waren, konnten miterleben, dass in dieser Zeit mehr geschah als nur Abschied nehmen und traurig sein. Es entwickelte sich auch ein erwartungsvolles Ausschau halten, ob da noch etwas ist, etwas kommt; ob da vielleicht doch mehr passieren wird, als dass man einfach nur so aus dem Leben verschwindet.
Die Gespräche mit ihr changierten zwischen Zweifel und Hoffnung. Einen Paulustext ließ sie sich mehrmals vorlesen und sprach ihn schließlich selbst: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt worden bin.“ In diesen Sätzen hatte der Tod etwas Verheißungsvolles. Wie am Abend der Premiere, kurz bevor sich der Theatervorhang zum ersten Mal hebt und die Zuschauer gespannt darauf warten, was ihnen nun geboten wird. Vielleicht wird es eine ganz große Aufführung, vielleicht bleibt der Vorhang aber auch unten, mal schauen.
Für Moidele Bickel waren die fünfzig Tage zwischen Ostern und Pfingsten angefüllt mit dem stetig wiederkehrenden Ekel gegenüber all den furchtbaren Symptomen ihrer Krankheit, von zunehmender Schwäche, aber auch mit wunderbaren Begegnungen. Enge Weggefährten und Freunde kamen, sprachen mit ihr, lasen vor, schwiegen oder sangen für sie. Selten im Leben konnte sie so viel Nähe erleben und auch zulassen wie in diesen Wochen vor ihrem Tod.
Sie hat gesehen und sie wurde gesehen – eine berührende Zeit der Wandlung war das!