Um kurz vor neun erreicht mich ein Anruf der Notfallseelsorge. Es geht darum, eine Todesnachricht zu überbringen. Zwei Polizisten erwarten mich vor dem Wohnhaus einer Reihenhaussiedlung. Eine Frau ist am frühen Abend mit ihrem Fahrrad von einem Lastwagen erfasst worden und noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.
Wir klingeln und sofort spiegelt sich der Schreck im Gesicht des älteren Herrn, der uns die Tür öffnet, es ist der Ehemann. „Ein Unfall?“, will er wissen. „In welchem Krankenhaus liegt sie?“ Auf die Nachricht, dass seine Frau tot sei, reagiert er mit Entsetzen. Einen Arzt will er nicht, aber dass ich als Pfarrer mitgekommen bin und auch Zeit für ihn habe, das ist gut.
Zwei Stunden reden wir miteinander. Immer wieder wird er von Panikattacken geschüttelt. „Was soll nun werden? Ich bin doch älter als sie, ich bin krank, sie war topfit. Sie war doch erst Mitte siebzig und ich bin schon über achtzig, was soll ich nur machen?“ Er erzählt mir, wie sie sich kennengelernt hatten, wie sich ihre Wege trennten und dann doch wieder zusammenfanden. Früher war er aktiver Radsportler gewesen, auch seine Frau war leidenschaftliche Radfahrerin. Ausgedehnte Radtouren haben sie unternommen, die letzte vor kurzem erst! Und nun soll das alles vorbei sein?
Das war im November. Gerade waren sie noch dabei gewesen, den Garten winterfest zu machen. Er war mit den Pflanzen im Keller beschäftigt, als sie sich nochmal das Rad nahm, um Kleinigkeiten im Supermarkt zu besorgen. Nur ganz schnell, viel zu kurz, um sich erst lange zu verabschieden und nun kam sie nicht zurück, nie mehr.
Wir hatten viel geredet und waren beide erschöpft. Es war gut, dass ich dann ging.
Doch am nächsten Morgen noch vor sechs Uhr war ich wach. Was, wenn er sich etwas angetan hat? An Weiterschlafen war nicht zu denken. Um sieben wagte ich es anzurufen. Er war sofort am Telefon. Ob ich zum Frühstück kommen könne, fragte ich, und er war froh über mein Angebot. „Der Kaffee ist schon fertig und Brötchen backe ich auf.“ Wir redeten weiter und natürlich stand irgendwann die Frage im Raum: Wo war Gott? Wie konnte das geschehen? Seine Frau war so umsichtig, immer – viel mehr als er. Ich habe mehr geschwiegen als geredet.
Wo Gott war, als der Unfall geschah, wir wussten es nicht. Aber die Empfindung, dass sie jetzt bei Gott ist und dass das Band dieser langen Liebe auch durch die Trennung nicht zerrissen ist, das war etwas anderes. Diesen Trost konnte er sich zugestehen. Würde Gottes Gegenwart, würde die Liebe zu einem Menschen an der Grenze des Todes enden, es wäre unerträglich. (Ja,) Gott sieht mich, auch über den Tod hinaus!