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Wenn man keine logischen Argumente mehr hat, hilft oft eine gute Geschichte weiter. Diese Erfahrung machen zu allen Zeiten Menschen, die an ihrem Glauben an Gott festhalten wollen. Denn die Logik kommt da manchmal an ihre Grenzen. Die Eigenschaften Gottes, wenn man denn so über Gott reden darf, scheinen einander auszuschließen, wenn man die schmerzhafte Logik des Leidens darauf ansetzt. Der frühe Vordenker der Aufklärung Gottfried Wilhelm Leibniz ist nicht der erste, der so nach der Gerechtigkeit Gottes fragt. Und sicher nicht der letzte, der die Theodizeefrage stellt.
Der amerikanische Rabbiner Harold Kushner behandelt diese Frage in seinem Buch „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“. Er schreibt, dass er seit dem Tod seines Sohnes zwei Eigenschaften Gottes nicht mehr zusammendenken kann: Gottes Allmacht und Gottes Güte. Ist Gott allmächtig, dann ist er nicht gütig; denn ein gütiger Gott würde nicht einem der treuesten seiner Diener das Beste nehmen, was dieser hat, nämlich den geliebten Sohn. Ist aber Gott tatsächlich gütig, dann kann er nicht allmächtig sein; denn dann ist der Sohn gegen den Willen Gottes gestorben, und das hätte Gottes Ohnmacht erwiesen. So kreisen die Gedanken um diese zwei Eigenschaften Gottes und kommen an kein Ende.
Es kommt hinzu, dass Kushner und mit ihm viele andere leidende Menschen ihr Leiden ungerecht finden und dadurch nicht nur an der Güte, sondern auch an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln. Wenn man die Geschichte des Judentums mit seinen Verfolgungen und Vernichtungen auch nur einigermaßen kennt, leuchtet dieser Zweifel unmittelbar ein. Und wenn man bedenkt, wie viele Menschen heute Unsägliches in den Kriegen unserer Tage erleben müssen, wird es immer schwerer, an einen gerechten und gütigen Gott zu glauben. Schließlich wird der Glaube an Gott selbst in Frage gestellt. Es entsteht der Eindruck, man komme besser zurecht in der Welt des unverschuldeten Leidens und der ungerechten Demütigungen, wenn man Gott gänzlich von der Urheberschaft freispricht, indem man seine Existenz leugnet – Freispruch wegen Nichtexistenz, würde das Urteil lauten.
Aber sowohl im Judentum wie auch im Christentum gibt es Geschichten, in denen an der Gerechtigkeit und Güte Gottes festgehalten wird, obwohl guten Menschen Böses widerfährt. Im Judentum nennt man sie Midraschim, wenn es sich um erzählerische Ergänzungen zu biblischen Geschichten handelt. Die Legenden, die am Rande oder außerhalb der biblischen Tradition entstanden sind, nennt man Ma‘assoth oder auf gut Jiddisch Meisses. Sie haben zumeist auch einen frommen Hintergrund. So eine Meisse erzählt Micha Josef bin Gorion in seiner Legendensammlung „Der Born Judas“.
Dort bittet ein gewisser Josua ben Levis nach vierzigtägigem Fasten, er möge doch mit dem berühmten Propheten und Wundertäter Elia aus der hebräischen Bibel zusammen auf Wanderschaft gehen dürfen. Die Bitte wird ihm erfüllt – unter der Bedingung, dass ben Levis nur beobachten, aber keine Fragen stellen darf. So kommen die beiden in das Haus eines bedürftigen alten Mannes. Er besitzt nichts als eine Kuh. Mit seiner Frau sieht er die Wandersleute kommen und lädt sie zu sich ein. Seine Frau trägt von dem Wenigen, was sie besitzen, das Beste auf, und sie bekommen einen Schlafplatz für die Nacht. Am nächsten Morgen spricht Elia ein Gebet, und infolgedessen fällt die Kuh tot um. Ben Levis wird fast verrückt vor Befremden; aber das Fragen ist ihm ja verwehrt. Am nächsten Abend kommen die beiden Wanderer an das Haus eines reichen Mannes, der gibt ihnen jedoch nichts und lässt sie hungern und dürsten. Dieser reiche Mann will eine Mauer bauen. Elia spricht wieder ein Gebet, und ohne weitere Mühe entsteht die Mauer ganz von selbst. Ben Levis wundert sich wieder sehr. Am nächsten Abend kommen sie an eine sichtbar reiche Synagoge. Auch hier werden sie schlecht bewirtet und kaum beachtet. Zum Abschied wünscht Elia den Männern, die ihnen so übel mitgespielt haben, dass sie alle Stadträte werden mögen. In der nächsten Stadt endlich werden sie so empfangen und bewirtet, wie es ihrer Würde und ihren Bedürfnissen entspricht. Elia aber dankt ihnen das mit dem Wunsch, nur einer von ihnen möge Stadtrat werden.
Nun hält nichts ben Levis mehr von seinen Fragen zurück. Er bittet Elia, ihm seine Geheimnisse aufzudecken. Elia erwidert: „Wenn du gewillt bist, dich von mir zu trennen, so will ich dir alles erklären und dir die Gründe meiner Taten darlegen. So wisse denn: dem Mann, dessen Kuh ich tot niedersinken ließ, sollte an diesem Tage die Frau sterben. Deshalb betete ich, dass die Kuh anstatt der Frau als Sühnopfer hingenommen werde; durch diese Frau soll dem Mann noch Gutes beschieden werden und viel Nutzen erwachsen.
Jener Reiche wiederum, dessen Mauer ich aufgerichtet habe: Wenn er sie selbst von Grund aus befestigt hätte, dann hätte er darunter einen großen Schatz von Gold und Silber gefunden. Um das zu verhindern, habe ich ihm diese Arbeit abgenommen. Aber meine Mauer wird in Bälde einstürzen und wird dann nicht mehr aufgebaut werden.
Den hartherzigen Männern im Bethaus wünschte ich, dass sie viele Häupter und Fürsten über sich haben sollten, denn das ist ein Unglück und führt zur Uneinigkeit, wo es gilt zu ratschlagen und Vorsätze zu fassen; jeder Ort, der viele Herren hat, wird zerstört, verderbt und verwüstet. Den Gerechten aber, denen ich nur ein Haupt wünschte, wird mein Gebet zum Guten ausschlagen; ihr Gemeinwesen wird gestärkt werden.“
Es folgen einige fromme Ermahnungen des Propheten: Er warnt seinen Begleiter davor, den Bösen, dem es gut geht, zu beneiden – denn dessen Schicksal sei schon besiegelt. Sehe er aber, wie es einem Frommen schlecht ergehe, solle er nicht in Zorn entbrennen. „Dein Herz“, so fährt der Prophet fort, „verführe dich nicht dazu, deines Schöpfers Walten in Zweifel zu ziehen. Sondern dein Herz heiße den Schöpfer gerecht, wenn du urteilst und nachdenkst. Denn Gott ist gerecht, sein Gericht ist wahr, und seine Augen wachen über dem Tun des Menschen. Wer kann ihm sagen, was er zu tun habe?“
Ähnliche Geschichten gibt es auch im Legendenschatz des volkstümlichen Christentums. In einem Buch mit plattdeutschen Volkserzählungen aus Mecklenburg findet sich diese kleine Legendensammlung:
Unser Herr Christus hat einmal, als er mit seinen Jüngern unterwegs war, drei Kinder angestoßen. Die sind hernach gleich gestorben. Da fragten seine Jünger, warum er das getan habe. Ja, sagte Christus, er habe es gut mit den Kindern gemeint. Das eine Kind wäre sonst an den Galgen gekommen, das andere wäre geköpft worden und das dritte Kind wäre in Gefangenschaft geraten. Davor habe er sie bewahren wollen.
Christus ging weiter mit einem Jünger auf Wanderschaft. Sie sahen, wie Maurer an einem Haus arbeiteten. Da fiel ein junger Maurer vom Gerüst und war sofort tot. Sie gingen weiter und kamen in ein Gebirge mit Felsbrocken. Ein alter Mann ging dort herum und fiel um, starb aber nicht daran. Da fragte der Jünger den Herrn Christus, warum er den alten, aber nicht den jungen Mann gerettet hatte. Der alte habe doch schon lange genug gelebt. Der Jünger wusste, dass Christus die Macht gehabt hätte anders zu entscheiden. Christus aber antwortete: „Den jungen Mann habe ich bereits bei mir; aber der Alte muss sich erst noch zu mir bekehren, damit auch er zu mir kommen kann.“
Die Logik solcher Geschichten, und es gibt viele davon, ist allemal dieselbe. Um es mit einem Kirchenlied auszudrücken: „Unser Wissen und Verstand ist mit Finsternis umhüllet.“ Wir sehen nur das, was vor Augen ist. Aber Gott sieht weiter. Was uns hier unlogisch, falsch und ungerecht erscheint, ist im Licht der göttlichen Erkenntnisse gut und richtig. Deshalb ist es in der Logik dieser Geschichten falsch, Gott anzuklagen wegen scheinbarer Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit. Er ist und bleibt der gerechte und barmherzige Gott, komme, was da kommen wolle.
Es liegt auf der Hand, dass die Antwort der Legenden den kritischen Geist nicht befriedigen können. Hätte Gott denn nicht ganz andere Möglichkeiten, seine Menschenkinder zu erziehen, anstatt durch Not und Tod? Hätte er nicht jedem Menschen die Chance zur Umkehr und zur Besserung einräumen können? Noch drängender werden diese Fragen, wenn man bedenkt, dass Not und Unglück nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Völker und Landstriche. Es ist kein Zufall, dass die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes besonders dringlich wurde, als in Lissabon nach einem Erdbeben und einem Tsunami auf einen Schlag bis zu 100.000 Menschen starben. Das ist nur ein Beispiel, davor und danach gab und gibt es noch wesentlich Schlimmeres: Kriege, Atombomben, der Holocaust oder Naturkatastrophen. Es ist völlig undenkbar, dass eine solche große Zahl von Opfern damit gerecht behandelt werden könnte oder Menschen auf diese Weise gar bestraft werden könnten. Es gibt nach der Sintflutgeschichte im Alten Testament keine Geschichten, weder jüdische noch christliche, die solche Katastrophen heute in irgendeiner Weise verständlich machen können. Nach Gottes Bund mit Noah und den Menschen nach der Sintflut kann es auch nach biblischem Verständnis keine Katastrophe geben, die einer strafenden göttlichen Gerechtigkeit entsprechen könnte. Und seiner Güte schon gar nicht. Es ist kein Wunder, dass Menschen angesichts der Katastrophen allein der letzten 120 Jahre den Glauben an einen gütigen, gerechten und allmächtigen Gott verlieren.
Doch muss man aus lauter Mitgefühl für die Opfer kein Atheist oder Agnostiker werden. Die jüdisch-christliche Überlieferung bietet eine andere Form des Umgangs damit an, die Sagen und Legenden aus Judentum und Christentum lassen sie vermissen. Das ist die Solidarität mit den Leidenden. Wenn Menschen schon das Leiden nicht verhindern können, so lässt sich doch einem Zynismus wehren, der das Leiden hinnimmt und auch noch fromm erklärt. Wenn Menschen schon Krieg, Schmerzen und Tod nicht beseitigen können, so kann man doch die Hartherzigkeit benennen und bekämpfen, mit denen das Leiden anderer klein geredet wird. Als Christ kann ich keine Geschichten mehr erzählen, die von der Weisheit Gottes handeln. Als Menschen aber können wir Geschichten handelnd ins Leben rufen, in denen wir unsere Weisheit walten lassen im Einsatz gegen das Leiden in dieser Welt. Damit stellen sich Menschen mit ihrem Glauben an die Seite Gottes und bekämpfen mit ihm Leid und Not in dieser Welt. Das ist unsere Aufgabe, die wir immer wieder neu aus der Hand Gottes empfangen.
Die weitergehende und entscheidende Hoffnung des Judentums aber ist, dass am Ende der Zeiten der Messias kommt und diese Welt zurechtbringt, die jüdische ebenso wie die nichtjüdische. Wie das geschehen soll, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Nur, dass es geschehen wird, ist für fromme Juden nicht verhandelbar. Das Christentum teilt diese Hoffnung in gewisser Weise, indem es von der Wiederkunft seines Messias, des Erlösers Jesus Christus spricht. Dann werden die Fragen nach der Gerechtigkeit und der Güte Gottes beantwortet, und zwar in zweierlei Hinsicht. Mit Ernst Bloch, dem großen jüdischen Philosophen, ist zu hoffen, dass der Täter nicht über sein Opfer triumphiert; und mit der Offenbarung des Johannes, dem großen Propheten auf der Insel Patmos, setzen Christen auf die Verheißung, dass Gott alle Tränen abwischen wird. Das allerdings ist das Ende aller Geschichten; und eine Wirklichkeit greift Raum, die heute noch nicht vorstellbar ist. Aber erzählen davon, das lässt sich schon jetzt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- To My Friend Michale, Giora Feidman, Viva el Klezmer
- To Giora, Giora Feidman, Viva el Klezmer
Literaturangaben:
- Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, gesammelt von Micha Josef bin Gorion, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Emanuel bin Gorion, Insel Verlag Wiesbaden, 1959
- Plattdeutsche Legenden und Legendenschwänke. Volkserzählungen aus Mecklenburg. Herausgegeben von Siegfried Armin Neumann, Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1974