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"Wo ist dein Bruder?"
Der Angesprochene wehrt ab: "Das weiß ich nicht. Bin ich dazu da, auf meinen Bruder achtzugeben?"
Mit diesem kurzen Wortwechsel sind wir mitten drin im ersten Kriminalfall der Menschheitsgeschichte, so wie die Bibel ihn erzählt. Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen. Natürlich weiß Gott, was geschehen ist. "Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit vom Ackerboden zu mir."
Vorausgegangen ist eine Geschichte von Enttäuschung, Neid, Eifersucht und Gewalt. Eine Hass-Geschichte, in der die zerstörerische Kraft dieses Gefühls deutlich wird.
Alles beginnt mit Kains Geburt. Er ist der Erstgeborene des Urelternpaares Adam und Eva. Und Kain ist Mutters Liebling. Als er geboren wird, sagt sie voller Stolz: "Mithilfe Gottes habe ich einen Sohn bekommen." Die Geburt seines jüngeren Bruders Abel wird nur erwähnt. Die Brüder gehen unterschiedliche Wege. Abel wird Hirte, ein Nomade, der mit seinen Tieren von Weideplatz zu Weideplatz zieht. Kain wird Ackerbauer, der seinen festen Ort hat und bei den Eltern bleibt. Schon in den Lebenswegen der beiden Brüder stehen sich Welten gegenüber und der Konflikt zwischen nomadischen Viehhirten und sesshaften Bauern ist so alt wie die Menschheit. Wem gehört das Land und mit ihm seine Ressourcen? Wessen Lebensentwurf ist der bessere? Was fehlt, ist die Wertschätzung füreinander und die Akzeptanz des je anderen und seines Lebensweges. Die Existenz des anderen bedroht die eigene Lebensweise, manchmal sogar ganz tiefgreifend. Die Brüder sind in schmerzlicher Konkurrenz zueinander. Das Hass-Drama nimmt seinen Lauf.
Wie Hass entsteht beschreibt der Psychologe Reinhard Haller
"Die Wurzeln des Hasses liegen im individuellen inneren Erleben, in der zwischenmenschlichen Begegnung, im Menschlichen. Allerdings werden die allgegenwärtigen Hassauslöser – zu denen geringe Positivresonanz, (…) Enttäuschungen sowie alle Art von Kränkungen zählen – wenig beachtet und allgemein unterschätzt."
Was der Autor mit "Positivresonanz" meint, beschreibt er so:
"Positive Resonanz ist eine bestärkende psychische Kraft ersten Ranges. Richtig eingesetzt fördert sie Selbstbewusstsein und Vertrauen, verbessert Einstellung und Resilienz, befeuert die Motivation und ist ein nicht unwesentlicher Glücksfaktor. Wird dieser emotionale Verstärker, dessen höchste Form die Liebe ist, dem Menschen vorenthalten, reagiert er mit Enttäuschung, Zweifel, Minderwertigkeitsgefühl, Versagensangst und Depressivität. (…) Zeitlebens hofft der Mensch auf Wertschätzung und Vertrauen. In letzter Konsequenz geht es immer um die Liebe."
In der Geschichte von Kain und Abel geht es genau darum: Kain hat die positive Bestätigung nicht bekommen. Er, der Ältere, Geliebte und Erfolgsverwöhnte erlebt eine tiefe Kränkung. Beide Brüder bringen Gott ein Opfer dar, Kain von den Feldfrüchten, Abel von seinen Weidetieren und von deren Fett. Als sie ihre Opfer verbrennen, steigt der Rauch von Abels Altar auf. Kains Feldfrüchte brennen nicht so gut und er deutet das so, dass Gott sein Opfer nicht wohlwollend ansieht. Hat Gott Abel lieber als Kain? Das kann doch gar nicht sein! Enttäuscht kapselt Kain sich in seinem Zorn ein.
Wie aus Enttäuschung Hass wird, beschreibt Reinhard Haller:
"Enttäuschungen können das bisherige Menschen- und Welt- und Selbstbild infrage stellen, führen zum Zusammenbruch von Idealen und Weltanschauungen und lassen Zweifel an der eigenen Person hochkommen. Die Entdeckung des Selbstbetrugs löst Schuld- und Versagensängste aus, welche dann wiederum den Hass anstacheln."
Für Kain ist Abel schuld! Er hat ihm die Zuwendung Gottes weggenommen. Kain ist eifersüchtig und missgünstig. Die Bibel erzählt, wie Gott Kain nach seinem Zorn fragt: "Warum bist du so zornig, und warum blickst du zu Boden?" Kain ist, wie das die Psychologie nennt, in einer Frustrations-Kränkungs-Spirale. Die Gedanken drehen sich immer höher und weiter und gebären den alle anderen Gefühle übertönenden Hass. Der Neid auf den Bruder verhärtet sich. In Kains Kopf bekommt die eine Vorstellung immer mehr Gewicht: Der Bruder muss weg! Kalt und rational plant er, wie er ihn vernichten kann. Gottes Mahnung kann und will er nicht hören. Längst hat der Vernichtungswille sich tief in sein Denken eingefressen. "Wenn wir jemanden hassen, wollen wir, dass er nicht mehr existiert." sagt Aristoteles. Was Hass mit der Seele eines Menschen macht, beschreibt Reinhard Haller so:
Hass "verfolgt das Ziel andere Menschen zu kontrollieren und zu beherrschen, zu manipulieren und letztlich zu zerstören." Wer hasst, dessen Seele ist blind für den oder die andere. Die Fähigkeit sich einzufühlen ist ausgeschaltet. Hass "gibt differenzierten Überlegungen keine Chance. (…) Die kalte und aggressive Emotionalität des Hasses (…) kann selbst die Angst wegwischen, auch die Traurigkeit und die Verzweiflung. Hass ist durch und durch schamlos (…), böse und berechnend. (…) Die rationalen Anteile lenken und treiben den Hass, die emotionalen geben ihm seine destruktive Kraft."
Kains Hass ist immer weitergewachsen. Allmählich hat er sich in seine Gedanken eingegraben und so gewann das zerstörerische Vorhaben Gestalt. Die Umsetzung plant er genau. Freundlich lädt er seinen Bruder ein, mit ihm aufs Feld zu gehen, fern weg von den Eltern, nur sie Zwei, niemand, der Abel helfen könnte. Und dann fällt Kain über Abel her und schlägt ihn tot. Hat er ihn vergraben, um seine Tat zu vertuschen? Vor den Menschen kann er das vielleicht verstecken, vor Gott nicht. "Wo ist dein Bruder?" Kain leugnet, Gott kennt die Wahrheit und Kain muss die Last der Strafe tragen: fern von Gott wird Kain künftig leben, heimatlos, immer auf der Flucht. Nur töten darf ihn niemand. Der Mörder steht unter dem Schutz Gottes. Gott zeichnet ihn mit einem Schutzzeichen. Kain lebt weiter, mit seinem Hass und seiner Schuld, mit den Konsequenzen seines Tuns. Ob er irgendwann eingesehen hat, wie Gott versucht hat, ihn in seiner Verletztheit und Enttäuschung zu erreichen und dass Gott ihm einen Ausstieg aus seiner Hassspirale aufgezeigt hat?
Hass durchzieht mit seiner zerstörerischen Kraft die Geschichte der Menschheit und begleitet auch das konkrete Leben jedes einzelnen Menschen. Immer wieder kommt es zu Hassausbrüchen und zu hassmotivierter Gewalt.
Reinhard Haller schreibt dazu:
"In vielen Fällen kann sich Hass nur entfalten, wenn das Hassobjekt entwürdigt, ja sogar entmenschlicht wird. Bei den schlimmsten hassmotivierten Verbrechen, bei Völkermord und Krieg, wird diesem Ziel durch vorausgehende Propaganda, durch Schaffung von Feindbildern, durch Radikalsprache und Hetze Rechnung getragen. Im Kleinen, in unserem Alltag spielen sich diese zwei wesentlichen Momente – Empathieverweigerung und (…) Entwürdigung – tausendfach ab."
Im Herbst des vergangenen Jahres war ich mit einer Gruppe Jugendlicher in Auschwitz und Birkenau. Eine der Teilnehmerinnen schreibt in unserem Bericht angesichts der Asche der dort ermordeten Menschen:
"Für mich war es am grausamsten, zu hören und zu sehen, dass den Menschen damals auch nach ihrem Tod jede menschliche Würde genommen wurde. Aus ihrer Haut wurden Kleidungsstücke und Lampenschirme gemacht. Aus den Haaren wurde Bettzeug gemacht und Fellkragen für Mützen und Jacken hergestellt. Am schlimmsten aber fand ich es zu hören, dass die menschliche Asche nach dem Tod zum Düngen von Wiesen, Feldern und Pflanzen genommen wurde. (…) Ich finde auch, dass nicht nur diesen Menschen ihre Würde genommen wurde. Die Leute, die so etwas gemacht haben, haben jede menschliche Würde und den Verstand verloren."
Kalt und mit planvoller Präzision haben Hitler und seine Schergen ihren Hass und ihre Menschenverachtung umgesetzt. Die Entmenschlichung gehört zu den perfiden Werkzeugen hasserfüllter Propaganda. Den verhassten Menschen werden all ihre menschlichen Eigenschaften abgesprochen. Sie werden zu den Anderen gemacht, als "Parasiten" bezeichnet, als grundhaft böse dämonisiert, ihnen wird jedes Lebensrecht abgesprochen. So weisen die Täter alle Verantwortung von sich. Schuldig sind die Opfer. Wer so anderen Menschen ihre Menschenwürde abspricht, der nimmt sich selbst die menschlichste aller Fähigkeiten: das Einfühlungsvermögen und die Mitmenschlichkeit. Welche furchtbaren Folgen das in einer Kriegssituation hat, erfahren wir gerade jeden Tag in den Nachrichten aus der Ukraine. Wie schmerzlich es ist, wenn Menschen in den sozialen Netzwerden Opfer von sogenannter "Hate-Speech" werden, wenn sie beschämt, verunglimpft, auf das Übelste beschimpft und mit dem Tod bedroht werden, davon berichten Betroffene immer wieder. Die Methoden, mit denen Menschen in ihrem Alltag andere quälen, kleinmachen und zerstören sind perfide, äußerst wirksam und reichen von ungerechtfertigten Schuldzuweisungen in der Täter-Opfer-Umkehr über Beschämung und Verwirrungsstrategien, die dem Gegenüber Verstand und Verantwortung absprechen. Immer ist das Ziel der Hassenden, ihre Opfer sozial und emotional, am Ende gänzlich zu vernichten.
Noch mal zurück zur biblischen Erzählung. Als Kain, beherrscht von seiner Enttäuschung und Missgunst, in seinem Hass versinkt und die Pläne sich sin seinem Kopf formen, sagt Gott zu ihm: "Ist es nicht so: Wenn du Gutes planst, kannst du den Blick frei erheben. Hast du jedoch nichts Gutes im Sinn, dann lauert die Sünde an der Tür. Sie lockt dich, aber du darfst ihr nicht nachgeben!"
Hass ist demnach nicht unvermeidlich und auch kein Schicksal. Ich kann als Einzelne dem Hass widerstehen, der nach meiner Seele greift . Die stärkste Kraft, die dem Hass entgegenwirkt, ist die Liebe.
Martin Luther King drückt das so aus:
"Hass lähmt das Leben; Liebe befreit es.
Hass verwirrt das Leben. Liebe bringt es ins Gleichgewicht.
Hass verdunkelt das Leben. Liebe erleuchtet es."
In unserem Gehirn sind Hass und Liebe in den gleichen Hirnarealen angesiedelt. Beide sind eng damit verbunden, wie wir anderen Menschen und wie diese uns begegnen. Gott traut Kain zu, dass er sich entscheiden kann, ob er dem Hass folgt oder der Spur der Liebe: "Du darfst dem Sog der Versuchung nicht nachgeben!" Ich denke, genau das war der Moment, in dem die Geschichte auch ganz anders hätte ausgehen können. Kain hätte seine verletzten Gefühle, seine Eifersucht, seinen Ärger Gott gegenüber und seinen Neid auf Abel wahrgenommen und sich selbst damit ernstgenommen. Er hätte auf seinen Bruder geblickt, verstanden, warum dessen Opfer besser gebrannt hat, sich vielleicht sogar mit ihm gefreut. Kain wäre sich selbst und seinem Bruder mit dem begegnet, was die Psychologie "positive Resonanz" nennt, mit Einfühlungsvermögen und Wertschätzung, mit Liebe.
Ja: Hätte, wäre… Aber: Warum nicht?
In dem Film "Avatar" sagen die Na’vi zueinander "Ich sehe Dich!", wenn sie einander wirklich wahrnehmen, mit ihrem Licht und ihren Dunkelheiten, mit dem, was sie ausmacht, wenn sie ihre Liebe zu dem oder der anderen in ihrem Herzen spüren. Darum geht es auch in der großen Herausforderung der Feindesliebe.
"Ich sage euch: Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! So werdet ihr zu Kindern eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über bösen und über guten Menschen. Und er lässt es regnen auf gerechte und auf ungerechte Menschen."
Das sagt Jesus in der Bergpredigt. Dass wir anderen mit Liebe begegnen, verändert noch nicht die, die uns Böses wollen und die wir darum als Feinde erleben. Es verändert uns selbst. Die Liebe sieht das menschliche Gesicht des Gegenübers, sie fühlt sich ein und macht den anderen Menschen, vielleicht sogar den verhassten Menschen, zum Mitmenschen, über dem Gott seine Sonne genau so aufgehen lässt wie über mir. Solche Liebe heißt nicht: alles ist wunderbar. Sie heißt: Ich nehme den anderen wirklich wahr und als Mitmenschen ernst. Gut möglich, dass ich auch die Sorgen, Nöte und Ängste sehe, die ihm oder ihr zu schaffen machen.
Wie kann ich ganz persönlich Hass überwinden und was kann ich dazu tun, dass wir ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem der Hass begrenzt wird? Indem ich bei mir selbst anfange; indem ich mich dafür einsetze, dass Menschen mit ihrem menschlichen Gesicht wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Der Weg dazu ist die Liebe.
Was sie ausmacht und wie sie wirkt hat der Apostel Paulus in wunderschöne starke Worte gefasst, die für mich einen Weg zu einem gelingenden Miteinander weisen:
Die Liebe ist geduldig.
Gütig ist sie, die Liebe.
Die Liebe (…) spielt sich nicht auf.
Sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie ist nicht reizbar und trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht, wenn ein Unrecht geschieht.
Sie freut sich aber, wenn die Wahrheit siegt.
Sie erträgt alles.
Sie glaubt alles.
Sie hofft alles.
Sie hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Übersetzt in mein eigenes Leben heißt das:
Die Liebe lässt den Dingen ihre Zeit und ist auch mit sich selbst geduldig und gütig. Wir brauchen Toleranz für unsere Fehler und Zeit zum Wachsen. Die Liebe ist großzügig, kann ruhig ausatmen und dieses oder jenes einfach so stehen lassen. Sie muss nicht immer recht behalten. Die Liebe kann vergeben und damit die eigenen Verletzungen und den eigenen Hass loslassen, damit da, wo diese in unserem Herzen wohnten, Freiheit und neue Offenheit für andere einziehen können. Die Liebe heißt das Unrecht nicht gut, setzt sich für Gerechtigkeit ein und stellt sich gegen Hassrede. Sie nimmt es nicht hin, wenn die Unkultur der Beschämung Raum greift, sondern setzt sich für eine Kultur der Wertschätzung und Freundlichkeit ein. Die Liebe dient einem friedlichen Miteinander. Sie hält eine bessere Zukunft offen und weiß sich darin von der Liebe Gottes getragen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- James Horner: The destruction, Track Nr. 10, CD: Avatar – Music from the Motion Picture
- James Horner: Scorched earth, Track Nr. 8, CD: Avatar – Music from the Motion Picture.
- James Horner: The destruction, Track Nr. 10, CD: Avatar – Music from the Motion Picture.
- James Horner: Becoming one, Track Nr. 5, CD: Avatar – Music from the Motion Picture.
- James Horner: Becoming one, Track Nr. 5, CD: Avatar – Music from the Motion Picture.
Literaturangaben:
- Reinhard Haller: Die dunkle Leidenschaft. Was Hass entsteht und was er mit uns macht, München 2022.
- Dokumentation der Reise nach Auschwitz und Krakau, Ev. Kirchengemeinde Kroppen, 2022.
- https://beruhmte-zitate.de/autoren/martin-luther-king/zitate-uber-leben/