Karfreitag ist Abgrund und Alltag

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via unsplash / Vlad Zaytsev

Karfreitag ist Abgrund und Alltag
Ein Hinrichtungskommando findet sich immer
07.04.2023 - 08:35
07.01.2023
Peter Oldenbruch

von Pfarrer Peter Oldenbruch

Über die Sendung:

„Gott am Galgen“? Manchen ist dieser Gedanke unerträglich. Christinnen und Christen üben ihn: auf einem Kreuzweg, im Bedenken von Jesu Passion, an Karfreitag.
Der Blick aufs Kreuz verändert den Blick auf sich selbst. Menschen erkennen sich als verletzlich und verletzbar, als sterblich und bedürftig.
Es bleibt aber nicht dabei. Der seiner Würde beraubte Gekreuzigte wurde von Gott angenommen. Für die Glaubenden wird so etwas Unsichtbares sichtbar: als bedürftige, makelhafte und scheiternde Menschen sind sie von Gott geachtet und mit unantastbarer Würde ausgestattet.

Sendung nachhören:
Sendung nachlesen:

Sieben Euro! Das reichte für ein dickes Päckchen Zigaretten und Herr Schäfer ist Kettenraucher.
Mit seinem Rollstuhl steht er am Ausgang der Anstaltskapelle, in der ein paar Mal im Jahr die Gemeindegottesdienste gefeiert wurden, Karfreitag z.B., dem evangelischen Feiertag.
Der Beinamputierte postierte sich am schmalen Ausgang der Kapelle, ließ beide entzündeten Beinstümpfe aus der Decke herausschauen und sagte nichts. Den potenziellen Gebern schaut er nicht ins Gesicht, er blickt zu Boden oder auf seine Stümpfe. Und hält bloß die Hand auf.
Die Leute mussten an ihm vorbei. Und sie wollten auch an ihm vorbei. Und an den roten Beinstümpfen. Die entzündeten Stümpfe und den ungepflegten Herrn Schäfer wollte niemand sehen. Nur schnell vorbei, nicht hingucken! Als ob das Elend verschwände, wenn ich nicht hinschaue. In diesem Falle funktionierte das sogar.
Schnell 50 Cent in die Hand des Amputierten. Aus den Augen aus dem Sinn.

Karfreitag richtet den Blick auf Schlimmeres als zwei entzündete Beinstümpfe. Karfreitag mal ein Schreckens-Bild aus „Spott und Hohn, Speichel, Schläge[n], Strick und Banden“ (EG 86,2).
Karfreitag schaut in das Gesicht eines Folteropfers in einem roten Mantel. Das Gesicht ist blutverschmiert - wegen der Dornen in der Kopfhaut. „Gegrüßet seist Du, der Juden König!“, spotten die Henkersknechte. Karfreitag richtet den Blick auf die Schläge.

In Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ spielen Schläge in endlosen Varianten nahezu eine Hauptrolle. Die Bibel erzählt auch vom Bespucken:
 „Sie spieen ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit auf sein Haupt:“

Vielleicht ist bespuckt werden noch entwürdigender als Schläge. Auf den meisten Darstellungen trägt Jesus am Kreuz einen Lendenschurz. Das Johannes-Evangelium jedoch erzählt nicht nur davon, wie die Soldaten nach Jesu Kreuzigung seine Kleider untereinander aufteilen. Er erzählt auch ausführlich vom Untergewand.
„Das Untergewand aber war ohne Naht von oben am Stück gewoben. Da sagten sie zueinander: wir wollen es nicht zerreißen, sondern darum losen, wem es gehören soll.“

Wahrscheinlich also hing Jesus ohne Lendenschurz am Kreuz. So wird den Gekreuzigten die letzte Würde genommen. Dieses festgenagelte nackte Folteropfer ist „beschämt, entehrt und der Schande preisgegeben.“1
Der Anblick ist schwer auszuhalten. Und bei denen, die den Anblick aushalten, stellt sich ein unangenehmes Gefühl ein: Scham.
In den ersten christlichen Jahrhunderten gab es wohl auch deshalb keine Darstellungen Jesu am Kreuz. Vielleicht aber auch noch aus einem anderen Grund: Man hätte auf den Bildern oder Kruzifixen gesehen, dass es ein Jude ist, der da am Kreuz hängt.

Über das Kreuzigen selbst sagt die Bibel nichts. Das war auch nicht nötig. Jeder Leser, jede Hörerin kannte diese Hinrichtungsart. Täglich wurden politische Verbrecher öffentlich gekreuzigt. Ein Hinrichtungskommando findet sich immer.
Die Kreuze mit den verwesenden Leichnamen ließen die Römer stehen. Zur Abschreckung. Jedes Kind wusste, wie eine Kreuzigung funktioniert: Die im Foltern geübten Soldaten treiben die Nägel in die Handgelenke, nicht in die Handflächen, wie das oft dargestellt wird. Die Handflächen wären unter dem Gewicht des Körpers ausgerissen. Die erfahrenen Soldaten nageln auch die Füße fest. Das erhöht den Schmerz, wenn das Opfer am Kreuz, um die Erstickungsanfälle zu lindern, versucht, sich abzustützen.
Das Kreuz ist als Folterwerkzeug äußerst effizient, es verbindet größtmöglichen Schmerz mit einem langen Todeskampf. Wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven richten die Evangelien den Blick dahin. Dahin, wo ich unwillkürlich weggucke.
2004 bin ich aus Mel Gibson Film „Die Passion Christi“ beinahe rausgegangen. Ich wollte keine weiteren Schläge mehr sehen, kein spritzendes Blut, auch das geschwollene Auge und die hungrigen Raben nicht. Die Evangelische Kirche in Deutschland bescheinigt Gibsons Passion Christi eine „barocke Blut- und Wunderfrömmigkeit“2. Käme sie von der Kirche - die meisten würden sie zurückweisen. Im Kino fand die barocke Blutfrömmigkeit ihre Gemeinde.

In der Bibel steigern sich Spott und Häme Laufe der Karfreitagserzählungen, gemeiner werden sie, hässlicher und persönlicher. Wie oft, wenn mit Hohn und bösem Spott angefangen wird.

„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.
Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.“
(Mt 27)

In allen Evangelien kommt der Spott ausführlich zu Wort. Allein bei Matthäus und Markus jedoch schreit Jesus am Ende.
„Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut ...“ (Mt 27,46)

Er schreit. Wie Menschen und wie Tiere schreien, wenn sie gequält werden.
Lukas und Johannes haben diesen Schrei in ihren Evangelien nicht erwähnt. Zu anstößig mag er ihnen vorgekommen sein. Auch die Gottverlassenheit erwähnen nur zwei Evangelien:
„Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani?  Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Er schreit sich seine Gottverlassenheit aus dem Leib. Oder betet er?

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. (...)
Du, Herr, sei nicht ferne, meine Stärke (...)
Errette meine Seele vom Schwert,
mein Leben von den Hunden!
Hilf mir aus der Rache des Löwen!“

So beginnt der 22. Psalm, ein Gebetsschrei. Womöglich wollte Jesus diesen Psalm beten, kam aber nur bis zum ersten Vers.
Die Erzählungen vom ersten Karfreitag lenken den Blick dahin, lassen Christenmenschen sehen, was kein Mensch erleben will, was viele partout nicht sehen wollen.
Im Islam zum Beispiel ist Jesus einer der großen Propheten. Dass der große Prophet jedoch gottverlassen gekreuzigt wurde - das ist unvorstellbar. Der Koran erzählt, dass man nicht Jesus sondern eine andere Person gekreuzigt habe, die ihm ähnlich sah. So heißt es im Koran:
„Sie haben ihn in Wirklichkeit nicht getötet und auch nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen ein anderer ähnlich, so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten.“ (Sure 4, 157)

Gelitten hat Jesus im Koran nicht und gekreuzigt wurde er nicht. In den Himmel gefahren ist er sehr wohl:
„Gott hat ihn zu sich in den Himmel erhoben. Gott ist mächtig und weise.“ (Sure 4, 158)

Im Christentum gab es diese Idee lange vor dem Islam. Simon von Kyrene, der gezwungen wurde, Jesu Kreuz zu tragen, habe mit Jesus die Rollen getauscht, meinte ein früher christlicher Gelehrter. Und Simon von Kyrene sei an Jesu Stelle gekreuzigt worden.

Im vermeintlichen Skandalfilm „Das Leben des Brian“ singen und pfeifen die Gekreuzigten am Ende des Filmes einen Ohrwurm. Die Gekreuzigten singen: „Always look on the bright side of life!“, also: Immer auf die Sonnenseite des Lebens sehn!
“Das Leben des Brian” der britischen Komikergruppe Monty Python ist eine beißende Persiflage auf schwülstige Jesusfilme, auf die Sandalen-Filme. Manche Christinnen und Christen empfanden „Das Leben des Brian“ deshalb wohl als Gotteslästerung.
Ich denke, der Film ist keine Blasphemie. In der Kreuzigungsszene wird nicht der Karfreitag lächerlich gemacht, sondern eine bestimmte religiöse Haltung:
als müsse man auch das Widerwärtigste bloß positiv sehen und schon seien die Probleme gelöst,
als reiche es, aus dem halb leeren ein halb volles Glas zu machen,
als komme es nur darauf an, dem Negativen positive Seiten abzugewinnen.
Schließlich befänden sie sich an der frischen Luft, sagt im rabenschwarzen Film einer der Gekreuzigten. Dieses vorgeblich „positive Sehen“ nimmt der Film auf die Schippe, gerade in der Kreuzigungs- und Schlussszene. Die Kreuzigung Jesu, wie man sie aus den Evangelien kennt, dient dabei als Folie. Ohne den blutigen Ernst der Evangelien funktionierte der schwarze englische Humor nicht.

Wer den Karfreitag so schwarz sieht, wie er ist, das Kreuz als Folterwerkzeug für größtmöglichen Schmerz, die bösartige Häme, den Spott und die Gottverlassenheit am Ende, wer nicht wegschaut, wird sich fragen: wo bleibt da Gott?

Der KZ-Überlebende Elie Wiesel erzählte dazu folgende Geschichte:
In einem Konzentrationslager erhängte die SS zwei Männer und einen Jungen. Die beiden Erwachsenen starben rasch. Der Todeskampf des Jungen dauerte. „Wo ist Gott, wo ist er?“, fragte jemand. Der Junge kämpfte zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Mehr als eine halbe Stunde lang. Hinter sich hörte Elie Wiesel denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?“
Wiesel erzählt:
„Ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen.‘ “ 3

Diesen Gedanken zu wagen, fällt nicht allein Muslimen schwer. Auch Christinnen und Christen müssen ihn üben. Einüben auf einem Kreuzweg, im Bedenken von Jesu Passion, in Bachs Matthäus- oder Johannespassion.
In den Menschen jedoch, die sich auf diesen erbärmlichen Mann am Kreuz einlassen und sich von ihm berühren lassen, verändert sich etwas. In ihnen verändert sich was. Der Blick auf diesen seiner Würde beraubten Menschen am Kreuz, macht merkwürdigerweise „das Herz stark und gewiss. Das verinnerlichte Bild fungiert als ein Widerlager gegen die existenzielle Scham, sich selbst als makelhaft und bedürftig und damit als ungenügend zu empfinden.“ 4
Und nicht wenige Menschen empfinden sich mit einem Makel behaftet, als unannehmbar, als Mängelexemplar. Erstaunlicherweise haben selbst jene Menschen, die gebildet sind, mit einem modellierten Körper daherkommen und top gestylt sind, das Gefühl: Ich bin nicht so, wie ich sein soll oder sein will; ich bin nicht in Ordnung. Dieses Grundgefühl scheint mir weit verbreitet zu sein, nicht allein bei Älteren, die sich ihres Alters schämen oder ihrer Gebrechlichkeit.
An Herrn Schäfer kann man vorbeigehen und sich mit 50 Cent freikaufen. An der Erkenntnis, dass ich selbst verletzlich und verletzbar bin, sterblich und bedürftig, komme ich nicht vorbei. Im Blick aufs Kreuz seh´ ich mich selbst.

Es bleibt aber nicht dabei. Dieser Gekreuzigte, der seiner Würde beraubt wurde - der wurde von Gott angenommen und erhöht. Der auferweckte Christus ist kein andrer als der gekreuzigte Jesus.
Für die Glaubenden wird am Kreuz etwas sichtbar, das die Scham überwindet, „die immer wieder das Selbstwertgefühl angreift:
„[…] dass sie als bedürftige und missliebige, als makelhafte und scheiternde, als sich für ihre eigene Existenz schämende Personen
gewollt, geachtet und mit unveräußerlicher Würde ausgestattet sind.
“5
Du bist geachtet und mit unveräußerlicher Würde begabt!
Wer das glaubt, wird selig.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Johann Sebastian Bach: Vorspiel zu „Erbarme dich“, CD-Titel: Matthäuspassion.
  2. Johann Sebastian Bach: Zwischenspiel aus „Erbarme dich“, CD-Titel: Matthäuspassion.
  3. Johann Sebastian Bach: Zwischenspiel aus Matthäuspassion, CD-Titel: Matthäuspassion.

Literaturangaben:

  1. Kristian Fechtner: Diskretes Christentum, Religion und Scham, Gütersloh 2015, S. 51.
  2. EKD: Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi, Gütersloh 2015, S. 153.
  3. Elie Wiesel: Die Nacht, Freiburg i. Br. 1996, S. 93f.
  4. Kristian Fechtner: Diskretes Christentum, Religion und Scham, Gütersloh 2015, S. 80.
  5. Kristian Fechtner: Diskretes Christentum, Religion und Scham, Gütersloh 2015, S. 81.
07.01.2023
Peter Oldenbruch