70 Jahre Befreiung Auschwitz

Morgenandacht
70 Jahre Befreiung Auschwitz
27.01.2015 - 06:35
23.02.2015
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz

Vor zwei Jahren saß ich in Tel Aviv draußen in einem Cafe. Es war gut besucht von jungen Israelis. Drei Tische weiter saßen einige, spielten mit ihren Smartphones und unterhielten sich. Einer hatte einen blauen Trainingsanzug an. Irgendwann drehte er sich um. Auf dem Rücken seiner Jacke stand nicht etwa irgendein Verein oder eine Schule. Da stand riesengroß „Bundesrepublik Deutschland“. Ich konnte es nicht fassen. In Israel habe ich vieles erwartet, aber das bestimmt nicht. Inzwischen weiß ich, dass der Jugendliche kein Einzelfall war. Deutschland - und in erster Linie Berlin - gelten bei vielen in Tel Aviv als angesagt. Und nicht nur, weil das Leben in Berlin deutlich günstiger ist als in Tel Aviv. Mehr als 20000 junge Israelis sind inzwischen in Berlin, viele pendeln zwischen Israel und Deutschland. So sehr ich mir noch immer die Augen reibe und mich aufrichtig darüber freue, so verunsichert bin ich auch. Ist das jetzt Normalität? Kann man in der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust einfach zur Normalität übergehen?

 

Zuletzt haben ja die Anschläge von Paris gezeigt, dass die Gesellschaft von Normalität noch weit entfernt ist. Auch, weil der israelisch-palästinensische Konflikt im Nahen Osten jetzt stellenweise zu einem muslimisch-jüdischen Konflikt in Europa wird. Weil Islamisten deshalb Juden und jüdische Einrichtungen in Europa zum Ziel von Anschlägen machen. Und die Gefahr von Neonazis und Antisemitismus hierzulande ist nach wie vor nicht zu unterschätzen.

 

Ich freue mich über die Normalität, die möglich ist, aber sie darf um Himmels willen keine geschichtsvergessene Normalität sein. Der Schrecken von Auschwitz hat so viel in Bewegung gebracht und verändert: die Künste, die Politik, unsere Gesellschaft - und auch Philosophie und Theologie. Eine geschichtsvergessene Normalität würde gefährden, was Deutsche aus und nach Auschwitz mühsam gelernt haben. Sie würde letztlich Hitler Recht geben. Als Theologe habe ich jahrelang um meinen Glauben an Gott gerungen, einen Gott, der Auschwitz zugelassen hat. Das hat meinen Glauben und meine Theologie sehr verändert und geprägt.

 

Heute ist der 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Und da Auschwitz zum Symbol der Shoah, der europäischen Judenvernichtung durch die Deutschen geworden ist, ist heute auch der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

 

70 Jahre ist die Befreiung her. Das bedeutet, dass die meisten Überlebenden inzwischen gestorben sind. Und so sind kaum noch Menschen da, die aus erster Hand berichten können, was damals Grausamstes geschah. Die ehemaligen Konzentrationslager wie die Orte der Täter sind heute Gedenkstätten, es gibt viele Museen mit Ausstellungen, die davon erzählen, und es gibt den Geschichtsunterricht in den Schulen darüber. Und das ist gut und wichtig. Meine prägendsten Erfahrungen habe ich jedoch im Gespräch mit Überlebenden aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern gemacht. Wieviel geht verloren, wenn bald keiner mehr aus eigenem Erleben davon erzählen kann? Die Erfindung von Film, Foto und Audio kann man hier gar nicht hoch genug einschätzen. Denn so kann die Botschaft der Überlebenden erhalten bleiben. Tun wir alles dafür, dass möglichst viele junge Menschen z. B. mit Aktion Sühnezeichen den Weg nach Auschwitz oder in eine andere Gedenkstätte finden. Das sollte zur Normalität unbedingt dazugehören.

23.02.2015
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz