Anstand gegen Unmenschlichkeit

Wort zum Tage
Anstand gegen Unmenschlichkeit
09.01.2015 - 06:23
05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker

Sie sind dicke Freunde, Emil und Karl, vielleicht zwölf Jahre alt. In der Schule lernen sie voneinander, in der Freizeit spielen sie miteinander. Plötzlich kommt der Schrecken in ihren Frieden: Nationalsozialismus. Was nie ein Problem war, wird jetzt eins: Emil ist Jude. Es kommen Männer, die seinen Vater abholen. Wochen später auch seine Mutter. Sogar Karls Mutter holen sie, weil sie Juden grüßt und bei ihnen einkauft. Die Jungen sind allein. Mutterseelenallein. Sie halten sich fest. Schwören sich ewige Freundschaft. Erst schlafen sie in einem Keller. Das ist zu gefährlich. Dann gehen sie durch die Straßen und erleben, was mit Juden geschieht. Die müssen Pflastersteine putzen, mit bloßen Händen. Reine Schikane. Nichtjuden und Soldaten belustigen sich daran. Emil und Karl trauen sich nicht mehr in den Keller. Sie laufen in der Dämmerung an Hauswänden entlang und suchen etwas zu essen. Da haben sie Glück. Eine Nachbarin hilft ihnen, kocht, lässt sie mal im weichen Bett schlafen. Jeder Tag ein neues Misstrauen; jeder Tag eine neue Hoffnung. In feindlichen Zeiten hält die Freundschaft von Emil und Karl. Bis eines Tages der Kindertransport kommt.

 

Ein wunderbares Buch, das von Emil und Karl.* Es erzählt von einem kleinen Licht in einer furchtbaren und finsteren Zeit. Jahre voller Misstrauen, Verrat, Willkür und Gefängnis. Aber manchmal auch, ganz klein, Stunden des Vertrauens und der Hilfe unter Nachbarn oder Fremden. Wenn ich das lese, sitzt immer die Frage neben mir: Wie wäre ich gewesen? Wie hätte ich mich verhalten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich hoffe. Auf ein klein bisschen Anstand hoffe ich. Bei mir und anderen. Auf eine Handvoll Menschlichkeit. Immer noch, immer wieder. Es gab sie und gibt sie, die Menschen mit ein wenig Anstand. Sie geben zu essen, beziehen mal ein Bett für Flüchtende, schenken ihnen einen Mantel. Es gab und gibt die, die nicht verachten. Nicht mitmachen, wenn gehasst oder geschlagen wird. Meist kann man nicht viel tun. Aber eins geht doch, oder? Dass ich um Gottes willen denen nahe bin, die sonst keiner anschaut, keiner haben will. Nahe bin mit einem Gruß, einem Brot, neuer Wäsche und nichts Verächtlichem. Das muss doch gehen, oder? Das bisschen Anstand…

 

 

*Yankev Glatshteyn (auch Jacob Glatstein): Emil und Karl, „Komet Nr. 7“ der Anderen Bibliothek, 2014

05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker