Die Vision des Alten

Wort zum Tage
Die Vision des Alten
23.01.2015 - 06:23
05.01.2015
Pfarrerin Christina-Maria Bammel

„Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher unbesiegbarer Sommer ist.“ Ein Satz von Albert Camus. Vielleicht trifft er auch auf den 80jährigen zu, den ich vor Augen habe: wie er raus in die kalte Morgenluft tritt, zum anderen Ende der Stadt fährt. Es hatte in seinem Leben Winter gegeben, da war es so kalt, dass man zum Schlafen die Sachen nicht ausziehen durfte, da fehlte das Holz; und der Hunger kroch mit ins Bett. Enteignet und Vertrieben waren damals die Eltern, und er als Junge mit ihnen. Winter kamen und gingen. Heute bedenkt er, wofür noch Lebenskraft da ist - auf dem Weg zum anderen Stadtende, wo eine Turnhalle mit 100 ruhenden Flüchtlingen auf Feldbetten wartet. Eingeteilt wird er von 6 bis 14 Uhr. So macht er sich ans Frühstückvorbereiten. Der Diplomat a.D., nun im Ehrenamt, muss mit Argusaugen darauf achten, dass er immer exakt die gleiche Käsescheibe, das gleich große Stück Butter ausgibt. Afghanen und Syrier stehen von ihren Feldbetten auf, strecken sich und warten an der Essensausgabe. Als die Frühstückszeit vorbei ist, holt der Ermüdete Luft. Kleine Mädchen kommen und schauen, was der weißhaarige Mann macht. Es gibt ja sonst nicht viel zu tun und zu sehen in dieser Sport-Halle, die jetzt mehr eine Wartehalle ist . Die Mädchen zeigen ihm die Bilder, die sie gemalt haben – bunte Flaggen aus ihren Heimatländern. Die Kinder und der zehnmal ältere Mann hängen alle Bilder an die Wand. Das gibt eine richtige kleine Galerie. Wie es ist, selbst einmal ein hungriger Habenichts gewesen zu sein, wie sich Krieg und Angst anfühlen, das kennt der Mann. Wenn er das nächste Mal in die Turnhalle kommt, will er mehr Stifte und Papier mitnehmen. Er kann nicht anders, er will hoffen, dass alles, was hier getan wird, nicht vergeblich ist. Sein eigener Lebenshorizont sorgt ihn nicht. Er sorgt sich um den Lebenshorizont derer, die von weit her hierhin gekommen sind! Er ahnt: indem er hier den Laden mit am Laufen hält, hält er die Hoffnung aufrecht. Und die Hoffnung hält ihn. „Mitten im Winter erfuhr ich, dass in mir ein unvergänglicher unbesiegbarer Sommer ist.“ Ich muss dabei an den alten Tempeldiener Simeon in der Bibel denken. Er hielt fest an dem alten Versprechen Gottes: Ich trage dich und die Deinen durch die Zeit. Er konnte nicht anders als danach leben. Als Simeon dann im Tempel den Säugling Jesus in den Armen halten darf, spürt er: nicht er trägt das Kind, sondern das Kind trägt ihn. Er bekommt eine ganze Menschenhoffnung auf den Arm. So kann dieser alt gewordene Mann für einen Augenblick durch den Horizont sehen – ein unvergänglicher unbesiegbarer Sommer.

05.01.2015
Pfarrerin Christina-Maria Bammel