"…aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an."

Feiertag

"Kain nach dem Brudermord", Henri Vidal, 1896 - Statue Jardin des Tuileries in Paris

"…aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an."
Die Macht der Kränkung
22.03.2020 - 07:05
03.01.2020
Barbara Manterfeld-Wormit
Über die Sendung:

Sie ist wie eine Krankheit. Sie lähmt. Sie zieht Kraft. Sie macht anfällig. Jeder weiß, wie sich das anfühlt. Doch was bedeutet „Kränkung“? Und was kann man ihr entgegensetzen?

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Der Raum ist voller Menschen. Sie stehen elegant gekleidet an gläsernen Bistrotischen mit Sektgläsern in der Hand. Der Raum ist erfüllt von Lachen und Gesprächen. Ich kenne niemanden, nippe an meinem Weinglas, greife bei den Häppchen zu, dann fasse ich mir ein Herz und steure den nächstbesten Tisch an. Und siehe da: Ich habe Glück. Direkt am Tisch geradeaus entdecke ich ein vertrautes Gesicht. Ich steure den Bekannten an, strecke ihm freudig meine Hand entgegen. Doch er: wendet sich ab. Im allerletzten Moment. Sieht durch mich hindurch, als würde er mich gar nicht kennen, dreht das Gesicht zur Seite und wendet sich dem Nachbartisch zu. Lässt mich einfach stehen mit meiner ausgestreckten Hand, die nun peinlich ins Leere greift. Ich lasse sie langsam sinken. Spüre die Blicke der Umstehenden. Stehe da – und merke, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Vor aller Augen zurückgewiesen, als unwichtig eingestuft. Uninteressant. Bedeutungslos.

Ich bin beschämt. Bloßgestellt. Und: zutiefst gekränkt. Nach Sekunden der Erstarrung tue ich, als sei nichts gewesen. Trinke tapfer mein Glas leer und stelle es zurück auf den Tisch. Dann trete ich den geordneten Rückzug an. Bewege mich wie in Trance durch die lachende, gesellige Menschenmenge hin zur Tür. Ich will nur noch weg von diesem Ort. Einfach abtauchen, mich irgendwo verkriechen. Vergessen, dass der andere mich so behandelt hat. Mich nicht gesehen hat. Absichtlich. Und mir damit zu verstehen gab: Du gehörst nicht dazu. Ich kenne Dich nicht.

 

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? … Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. (Genesis 4, 1 ff.)

 

 

Die biblische Erzählung vom ersten Mord der Menschheit hat eine Vorgeschichte: Kain wurde zurückgewiesen. So tief sitzt das Gefühl dieser Kränkung, dass es sich einfrisst in die Seele. Dort sitzt wie ein Stachel. Bis der Gekränkte Linderung sucht. Den Schmerz weitergibt, als könne er ihn so loswerden. Einen Schuldigen sucht für das eigene Elend. Dabei fühlt er sich selbst im Innersten schuldig. Ungenügend. Erfolglos. Gescheitert. Nicht wert geliebt zu werden. Am Ende ist Kain nicht bloß Täter. Er ist zuerst Opfer. Opfer einer erlittenen Kränkung.

Durch den Pariser Tuilerien-Garten läuft Kain noch heute. Henri Vidal schuf die Skulptur im Jahr 1896. Sie zeigt Kain nach dem Brudermord: Er blickt zur Erde - das Gesicht verborgen in der Hand. Ein gebrochener Mann. Die Szene könnte auch einen früheren Moment eingefangen haben – vor dem Mord am eigenen Bruder, kurz nachdem Gott Kains Opfer verschmähte und Abels dagegen „gnädig annahm“: Kain, der zutiefst Gekränkte. Der Ruhelose. Der Zurückgewiesene. Abgelehnte.

 

 

Würde Kain heute leben, er könnte sich Hilfe holen. In einer Therapie. In einem Buchladen. Wie wir mit Kränkungen umgehen können – dafür gibt es Ratgeber. Einer davon steht auf der Bestsellerliste. Sein Titel: „Das Kind in dir muss Heimat finden.“ Die Autorin führt zurück in die Kindheit, wo wir unsere ersten und prägendsten Erfahrungen von Nähe und Zuneigung, aber auch von Zurückweisung und Enttäuschung machen. Sie fordert dazu auf, in die eigene Vergangenheit zu blicken, sich ihr zu stellen. Dem nachzuspüren, was mir als Kind versagt worden ist an Zuneigung und Anerkennung. Was mich unbewusst kränkt bis heute. Und als erwachsener Mensch nachzuholen, was ich in der Kindheit so schmerzlich vermisst habe. Indem ich das Kind von damals, das ich selber war, auf den Arm nehme und es tröste. Nicht real – in Gedanken. Wahrnehme und meinen Frieden mache mit dem, was damals war, was fehlte, was mir an Unrecht widerfahren ist. Mich aussöhne. Mit mir und mit den anderen – den eigenen Eltern und Geschwistern.

Ich sehe Kain vor mir. Den Bruder. Meinen Menschenbruder. Den ersten, der gekränkt wurde. Wie jeder von uns im Laufe seines Lebens Kränkungen erfährt. Ich sehe ihn, wie die Bibel ihn gesehen und beschrieben hat: Er blickt zu Boden. Kann keinem in die Augen sehen. Kain, der Böse. Der hinterhältige, kaltblütige Brudermörder. Und dann sehe ich das Kind in Kain. Etwas in ihm muss damals zerbrochen sein. Ich sehe den Abgelehnten. Den Einsamen. Den Beschämten, der zu Boden blickt, weil er die Blicke der anderen nicht mehr aushält. Gottes Blick, der durch ihn hindurchging, als er sein Opfer darbrachte. Einfach so. Grundlos. Kain - ein Name, der fürs Scheitern steht. Für Unbeliebtheit. Für Bosheit und Heimtücke. Der Mann, mit dem das Böse in die Welt kam. Der erste Mörder der Menschheitsgeschichte. Nur zwei Generationen hat es gebraucht, bis damals Blut floss auf der Erde. Bis ein Konflikt eskalierte, bis Gewalt ausbrach, die sich seitdem nicht mehr einfangen lässt.

Heute fühle ich mich Kain näher. Abel bleibt seltsam gesichtslos in der Geschichte der Genesis vom Brudermord. Abel, das Opfer. Er verschwindet im Nichts. Kain bleibt. Die Geschichte bleibt beim Täter. Folgt seinen Spuren. Ich bleibe bei Kain. Beim Bruder. Dem nicht genug Geliebten. Dem Gekränkten. Ich bleibe dicht bei ihm, denn auch ich bin zurückgewiesen worden. Bin gekränkt worden. Ich verstehe ihn. Weil ich weiß, wie sich das anfühlt: plötzlich Luft zu sein, übergangen, nicht gewertschätzt zu werden.

Kränkung – die ist wie eine Krankheit. Sie lähmt. Sie zieht Kraft. Sie macht anfällig.

 

Da nahm Samuel sein Ölhorn und salbte ihn… Und der Geist des HERRN geriet über David … aber wich von Saul, und ein böser Geist vom HERRN ängstigte ihn… Da sprach Saul zu seinen Leuten: Seht euch um nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir. … So kam David zu Saul und diente vor ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb … Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand.

(1. Samuel 16, 13 ff. in Auszügen)

 

 

So widerfährt es Saul, dem ersten König über Israel – von Gott erwählt, vom Propheten Samuel gesalbt. Von Gott verworfen und ersetzt durch David, ein schmächtiger Kerl, der Goliath besiegt. Ein Strahlemann, der auf der Harfe spielt. Und Saul, der große Hoffnungsträger, verblasst zusehends an seiner Seite, wird schwermütig. Davids Aufstieg wird sein eigener Untergang. Aus nächster Nähe muss er es mit ansehen. Ahnungslos holt er den künftigen Konkurrenten an seinen Hof. Wie nach einem Muster scheint sich die Geschichte von Kain und Abel zu wiederholen: Sie handelt von Menschen, die einander einmal ganz nahe standen – bis die Kränkung passiert. Bis einer den anderen betrügt. Bis einer mit einem Mal erfolgreicher ist, als der andere und an ihm vorbeizieht. Bis er von ihrem Seitensprung erfährt. Bis das Testament eröffnet und sich am Ende unumkehrbar manifestiert, welches Kind mehr, welches weniger geliebt wurde. Bis aus Zuneigung Hass und manchmal am Ende sogar Gewalt wird. Es sind Geschichten, die Menschen krank machen, Persönlichkeiten verändern und nicht selten in der Katastrophe enden. Was kränkt, macht krank, wenn die Kränkung nicht überwunden wird, konstatiert der österreichische Psychiater Reinhard Haller in seinem Buch Die Macht der Kränkung. Die Kränkung manövriert ihr Opfer quasi in eine Sackgasse, in der es keinen Handlungsspielraum, keinen Ausweg mehr gibt. Eine tragische Geschichte, wie die des ersten Königs Israels. Das 1. Buch Samuel handelt davon: Saul, der auserwählte, umjubelte König - auch er erfährt eine solche Kränkung. Er ist nicht unschuldig daran. Als König hielt er sich nicht an Absprachen. Darauf entzieht Gott ihm die Gunst. Der Geist Gottes wechselt den Träger – weg von Saul hin zu David. Da wird Saul zornig, schwermütig, unberechenbar und: gewalttätig. Erst schleudert er einen Speer nach David. Immer wieder wird er von nun an versuchen, den Emporkömmling zu töten. Die grausame Spirale beginnt: Weil Saul spürt, dass er verlassen wird, gibt er den anderen Grund dazu. Nach und nach wenden sich alle von ihm ab. Es ist eine berührende Geschichte: die Geschichte von Sauls Abstieg und Davids Aufstieg. Es ist die Geschichte einer Kränkung, die für Saul zu einer chronischen Krankheit mit tödlichem Ausgang wird.

 

 

Jeder von uns hat im Laufe seines Lebens Kränkungen erlitten. Mehr als nur einmal. Jeder weiß, wie sich das anfühlt. Doch was bedeutet Kränkung? Nach einer verbreiteten Definition bezeichnet der Begriff die „Verletzung eines anderen Menschen in seiner Ehre, seinen Werten, seinen Gefühlen, insbesondere seiner Selbstachtung.“ (1) Bilder drängen sich auf – uralte, mythische Bilder, die sich mit aktuellen und individuellen mischen: Das zurückgewiesene Opfer Kains. Der gefallene König. Die gnadenlose Ansage, dass man ausgedient hat und gefälligst abtreten soll. Dass man nicht mehr gebraucht wird. Der Blick, der durch einen hindurchgeht. Der Liebesbetrug, der auffliegt durch eine Unaufmerksamkeit. Die ausgestreckte Hand, die nicht ergriffen wird. Die Entwertung von Biographien durch politische Ereignisse wie damals nach der sogenannten Wende. Rassistische Beleidigungen im Fußballstadion. Und egal, wer die Schuld trägt: Irgendwas bleibt immer hängen – auch am Opfer, das sich fragt, ob nicht schließlich etwas dran sei an der Kränkung. Ob der andere nicht Recht haben könnte. Ob ich in Wahrheit doch zu dumm, zu schlecht, zu hässlich, zu alt, zu erfolglos, vielleicht auch zu gut für diese Welt und am Ende zu wenig liebenswert bin.

 

 

Die Passionszeit ist eine Zeit der Kränkung: Jesus wird verspottet. Die Werte, die er verkörperte: Nächstenliebe, Feindesliebe, Gewaltlosigkeit - werden mit Füßen getreten. Jesus wird verletzt – an Leib und Seele. Das Bild des Gekreuzigten mit einer Dornenkrone auf dem Kopfwurde zum Inbegriff der Kränkung: ein zerbrochener Mensch mit einem gebrochenen Körper. Ein Bild, das Menschen über Generationen hinweg berührt - vielleicht, weil wir uns in Teilen darin wiedererkennen: unsere eigenen Verletzungen, unser Ausgeliefertsein, unsere Sterblichkeit. Sie ist wahrscheinlich die größte Kränkung, die wir am Ende erfahren: alle, ohne Unterschied.

 

Wenn meine Sünd‘ mich kränken, o mein Herr Jesu Christ,

so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist

und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes

auf dich genommen hast.

(EG 82,1)

 

In diesem Passionslied aus dem 17. Jahrhundert tritt neben die Kränkung durch andere Menschen noch eine andere: die Sünde, die Kränkung und Beschämung durch uns selbst. Durch sie werden wir beschädigt, verletzt, gekränkt in dem, was wir vor Gott eigentlich sind und sein müssten. Eine christliches Sündenverständnis, das fast selbst schon eine Kränkung ist – in einer Zeit, in der wir so viel wissen, machen, können und beherrschen sollen, dass man daran eigentlich nur zweifeln kann. Gerade da ist es wichtig und ungemein befreiend, sich daran zu erinnern: Kränkungen gehören zum Leben. Zu jedem Leben. Sie bewahren uns davor, uns zu überschätzen. Uns am laufenden Band selbst zu überfordern, indem wir uns für überall zuständig, für unantastbar, unverwundbar und unfehlbar zu halten. Sie bewahren vor zu viel Idealismus. Sie stärken die Menschenkenntnis. Indem sie mich auch die dunklen Seiten an anderen wahrnehmen lassen. Wenn ich all das bedenke, wird die Angst vor Kränkungen kleiner. Sie offenbaren nicht allein meine wunden Punkte und Schwächen, sondern auch die meines Gegenübers.

Ich sehe Kain vor mir – im Pariser Tuilerien-Garten. Kain, wie er gebrochen dasteht nach der Kränkung, nach dem Brudermord. Ich möchte ihn trösten. Ich möchte ihn ermutigen: Du musst nicht an dir verzweifeln. Es war alles nur ein tragisches Missverständnis. Gottes Aufmerksamkeit war für einen Moment beim anderen, bei deinem Bruder. Er hatte es nötig. Wärest Du nicht gleich gegangen, wäre er wieder bei Dir gewesen. Gottes Liebe ist groß – es ist genug davon da: genug für Dich, Kain, - und genug für Abel. Am Ende hätte Kain nicht loslaufen müssen. Nicht auf dieses Feld. Es wäre alles nicht passiert. Er und Abel hätten womöglich zusammen gelacht und Kain hätte gesagt: Schwamm drüber. Ja, ich war wütend. Ich war eifersüchtig. Aber alles gut!

An Kain denken – und es anders machen. Nicht vergessen, dass – egal was geschieht – mein innerster Kern von keiner Kränkung berührt wird. Dass ich grundsätzlich – so wie ich bin – gesehen und geliebt werde; und liebenswert bin. Ich muss mich dann nicht groß machen und krankhaft überhöhen wie Narziss, der immer sein eigenes Spiegelbild bewundern muss. Ich kann auch mal über mich lachen, anstatt sofort gekränkt zu sein. Mich über den Erfolg anderer freuen, ohne an mir selbst zu zweifeln. Mich weiter anderen zuwenden, auch auf die Gefahr hin, verletzt zu werden.

Das Leben Jesu war eins, das Wege aus der Kränkung suchte. Der Wanderprediger aus Nazareth ging zu den Kranken und Gekränkten. Zu den Ausgestoßenen, Abgelehnten, Ungeliebten. Er sah nicht durch sie hindurch, sondern sah hin, sah sie an. Er tat nicht so, als ob sie Luft wären, sondern berührte sie. Er begegnete Menschen überraschend anders. Und indem er sie annahm, zeigte er, dass er sie liebte, auch wenn er nicht immer liebte, was sie taten. Unter allen Krankheiten, die er heilte, war die der Kränkung vielleicht die größte.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Remember not, Lord, our offences, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
  2. If Ye Love Me, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
  3. For the beauty oft the Earth, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
  4. I my best-beloved's am, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
  5. Thy perfect love, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
  6. Lord make me an instrument of peace, John Rutter and the Cambridge Singers, A Double Celebration
     

Literaturangaben:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Kr%C3%A4nkung abgerufen am 12.3.2020
 

03.01.2020
Barbara Manterfeld-Wormit