Der verschwiegene Großvater

Feiertag
Der verschwiegene Großvater
Auf der Suche nach der jüdischen Verwandtschaft
08.11.2015 - 07:05
26.07.2015
Gunnar Lammert-Türk

Christine Müller: Manchmal hab ich dann einfach nach dem Vater meines Vaters gefragt, also nach meinem leiblichen Großvater, und dann war Schluss mit Erzählen, dann schossen meiner Großmutter Tränen in die Augen und sie hat angefangen zu weinen und dann verstummt man als Kind, ist Schluss, also fragt man nicht. Und meinen Vater hab ich versucht zu fragen und hatte die gleiche Reaktion.

 

Christine Müller ist heute 66. Als sie ihre Großmutter väterlicherseits nach deren erstem Mann fragte, war sie sechs oder jünger. Die Erwachsenen hatten sie dazu angeregt. Wie so oft hatten sie sich gut unterhalten mit ihren Erinnerungen. Sie erzählten sich Geschichten aus dem Berlin der 20er und 30er Jahre:

 

Christine Müller: Wintergarten, Café Kranzler, Sechs-Tage-Rennen, Box-Kämpfe ... und wie toll die Leute angezogen waren. Und meine Großmutter erzählte dann auch von den etwas reicheren Damen, die zu Leiser kamen und dort Schuhe gekauft haben, meine Großmutter war Schuhverkäuferin bei Leiser. ... Da hab ich heute noch Schuhspanner, wo Leiser draufsteht.

 

Es war eine fröhliche, gemütliche Runde. Man warf sich die Bälle der Erinnerung zu.

Vielleicht am Kaffeetisch oder auf dem Sofa am Wochenende, wenn alle Zeit hatten.

Und immer wieder erwähnten der Vater und die Großmutter auch den Großvater.

 

Christine Müller: Da wurde von Max gesprochen, und wenn von Max gesprochen wurde, wusste ich, dass das ... Gespräch über meinen Großvater läuft. Und da wurde ... halt ... erzählt, was das für ein lustiger Mann war und nett und was er mal da gesagt hat und mal da gesagt hat und so.

 

Neugierig gemacht, fragte sie nach, nach Max, dem fidelen Großvater. Und es geschah das Entsetzliche: Die Fröhlichkeit stürzte in sich zusammen, trauriges Schweigen trat an seine Stelle: abrupt und unkommentiert. Ein Schreck für das kleine Mädchen: Was hatte das zu bedeuten?

 

Christine Müller: Meine Mutter hat mir dann erzählt, dass mein Großvater Jude war und dass wir da aber eigentlich nicht drüber sprechen. Die Oma und der Papa, die wollen nicht, dass Du darüber sprichst, so. Sag nicht, dass Du aus einer jüdischen Familie kommst oder lass Dich nicht als Jude erkennen oder irgendwie so wurde das gesagt. Ich hab mir damals nichts dabei gedacht. Das war ein bisschen bedrohlich, bisschen merkwürdig, ... aber ich wusste schon intuitiv, ich kann da jetzt nicht weiter bohren.

 

 

Es gab ein Geheimnis in der Familie, worüber nicht gesprochen werden sollte. Vielleicht war es besser so. Es gab ja auch noch so viel Anderes. Die Eltern liebten sich. Beide Großeltern lebten in Leimbach bei Mansfeld mit im Dorf. Ringsum Felder, Wiesen, Wald und Berge. Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner. Von den Folgen des Zweiten Weltkrieges war in diesem Idyll Anfang der fünfziger Jahre kaum etwas zu spüren. Und als Christine mit Vater und Mutter noch vor der Schulzeit nach Halle zog, wohnten sie bald wieder in einem Haus mit Garten. Wie ihr Vater und die Menschen, die um sie herum wohnten, fühlte sie sich eins mit der neuen Wirklichkeit. Ab der dritten Klasse lernte sie Russisch, an einer besonderen Schule.

 

Christine Müller: Da waren wir alles Kinder von Offizieren vor allen Dingen, also zumindest alles stramme Parteimitglieder, SED, alles ... Kommunisten, die den Anspruch hatten, ein neues Land zu schaffen. ... Und wir waren als Kinder ja natürlich auch sehr involviert in die Pioniergeschichte. ... Ich war ... natürlich Gruppenratsvorsitzende, ... das war ... alles sehr uniform, ja, ich wollte unbedingt diese drei roten Balken an meinem Ärmel haben.

 

In den Vorgaben dieser abgeschlossenen Welt suchte ihr kindlicher Ehrgeiz nach Bestätigung. In der Siedlung, in der die Eltern wohnten, lebten nur Gleichgesinnte, besser versorgt als der Rest der Bevölkerung, fernab von den Verhältnissen, wie sie sonst in der DDR herrschten. Aber auch in dieser Abgeschottetheit zeigten sich dann und wann Risse.

 

Christine Müller: Was uns damals alle beschäftigt hat, wo wir auch keine Antworten drauf bekommen haben, von drei meiner Mitschülerinnen haben sich die Väter umgebracht, erschossen. Die Umstände weiß ich nicht, ich weiß nur, dass da ziemlich Aufruhr war. Und dass nicht mit uns gesprochen wurde, weder zuhause noch die Lehrer.

 

Auch hierüber wurde nicht gesprochen. Wohl auch nicht groß nachgefragt. Weggeduckt. Was die Fassade störte, wurde verschwiegen, wie bei dem Geheimnis um den Großvater.

 

 

Christine Müller: Ich habe dann irgendwann diese Sterbeurkunden gefunden im Nachtschrank, ... als Kind guckt man ja mal ein bisschen bei den Eltern, was gibt es da so ... für Sachen, und das fand ich schon sehr geheimnisvoll. Das ... war die Sterbeurkunde aus Sachsenhausen auf Glas als Dia.

 

Im Nachtschrank des Vaters lag meist Schokolade. Aber es lag eben noch anderes dort. Hatte sie das unheimliche Geheimnis nun ergründet? Sie entzifferte die lapidare Mitteilung auf der Sterbeurkunde aus dem KZ Oranienburg: Am 1. August 1942, hieß es dort, sei der Ehemann ihrer Großmutter an den Folgen von Herz- und Kreislaufschwäche in Folge von Ruhr im Krankenhaus gestorben. Christine konnte die Entdeckung nicht auf sich beruhen lassen. Auch wenn sie schweigen sollte. Noch einmal versuchte sie, etwas zu erfahren.

 

Christine Müller: Ich hab das meiner Mutter erzählt, ihr das gezeigt, auch meinem Vater. Mein Vater fing an zu weinen und da ... musste ich es wieder an Ort und Stelle legen und hab es nur immer noch mal heimlich mir angeguckt.

 

 

Wieder war sie zu Heimlichkeit genötigt. Aber die Sterbeurkunde war ein zu starker Fakt. Konzentrationslager Sachsenhausen – das sagte ihr etwas. Nichts darüber, was es mit dem Judesein des Großvaters auf sich hatte, es war etwas Anderes. In der Schule wurde viel von der Nazi-Zeit erzählt, vom Widerstand, vor allem von dem der Kommunisten. Manchmal kamen welche und erzählten von ihren Erlebnissen in Nazi-Gefängnissen. Es gab Filme über sie, die waren wie Krimis. Und die kommunistischen Widerstandskämpfer waren oft im Konzentrationslager gestorben oder umgebracht worden. Für viele junge Menschen, für solche wie Christine, waren es Helden. Und so ...

 

Christine Müller: ... hab ich mir natürlich was zusammengereimt und habe mir eine richtig tolle Geschichte aufgebaut: ... mein armer Großvater, Widerstandskämpfer gegen Hitler, das fand ich damals toll. Und da konnte ich eben auch sagen, ich hab hier so was zuhause gefunden und mein Großvater, ... den haben sie umgebracht im KZ, der hat auch gelitten und so.

 

Sie hatte sich nun eine Geschichte zurechtgelegt, die auch den Schmerz der Großmutter und des Vaters erklären mochte. War es die wahre Geschichte? Das war nicht entscheidend. Es war überhaupt eine und sie passte in die abgeschlossene Welt, in der sie lebte. Das Bild, das sie sich so machte, hielt eine Weile vor. Aber dann kam sie nach dem Studium als junge Lehrerin ins wirkliche DDR-Leben, wo alle Westfernsehen sahen, was sie nicht durfte, auch viele Lehrer, und wo überhaupt alles anders war. Sie lernte einen alten kommunistischen Mitstreiter von Honecker kennen, einen, der nicht zum Partei- und Staatsapparat gehörte.

 

Christine Müller: Der hat mir dann erzählt, was zum Beispiel im Walzwerk Eisleben los ist, also wie die oberen Macher des Betriebes leben und wie die Arbeiter leben dort, ... wie dort gearbeitet wird. ... Der kam von einer Feier, da gab es auf einer Etage das Buffet für die Oberen und unten gab es Bratwürstchen und Bockwurst. Und er sagt, ... dafür hat er nicht ... im Gefängnis gesessen. Ein viertel Jahr später hat er sich umgebracht, der hat sich aufgehängt, das war ein Schock. ... Und das war für mich der Absturz aus dem sozialistischen Himmel in die Wirklichkeit, in den real existierenden Sozialismus.

 

Die Kulisse, hinter der alles Störende verborgen wurde, war zerstört. Sie hätte gern mit dem Vater über diese Erschütterung gesprochen. Sie wagte es nicht, zu sehr hing er an der Hoffnung, eine bessere Welt zu bauen. Was war nun mit dem Großvater, hielt die Legende vom Widerständler oder ging es nun doch einmal darum, was er ohne die hehre Geschichte als Jude erlebt und erlitten hatte? Es gab manchmal Anstöße, die so etwas wachrufen konnten. So, als sie als Studentin beim Besuch der Eltern im Fernsehen eine Reportage über den Jüdischen Friedhof im Ostberliner Bezirk Weißensee sah.

 

Christine Müller: Auf einmal ist ein Grabstein ins Bild gekommen, ganz groß und da stand Finger drauf, also mein Nachname.Heute weiß ich, das war nicht der Grabstein meines Großvaters, war halt zufällig derselbe Name. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt wusste, dass es ... einen jüdischen Friedhof in Weißensee gibt und dass mein Großvater möglicher Weise da begraben ist.

 

 

Sie hätte zum jüdischen Friedhof fahren können, nachforschen, ob das Grab, das sie im Fernsehen gesehen hatte, das ihres Großvaters ist. Sie tat es nicht. Aus Furcht vielleicht. Alles Jüdische war ihr so fern, nicht nur durch das Schweigen in der Familie. In der DDR waren Judentum und jüdisches Leben kein Thema. 1984 reiste sie nach Westberlin aus. Im Mai 1989 starb ihr Vater, die Mutter im gleichen Monat 1992. Im selben Jahr besuchte Christine den Friedhof in Weißensee, erfuhr, dass ihr Großvater dort bestattet ist und fand die Stelle. Ob ihr Vater das Grab besucht hatte? Sie konnte ihn nicht mehr fragen. Es vergingen Jahre, bis sie sich wieder mit dem Familiengeheimnis befasste. 2005 beschloss sie, einen Stolperstein für ihren Großvater verlegen zu lassen. In diesem Zusammenhang erhielt sie den Hinweis, sie solle beim Entschädigungsamt nachfragen, ob jemand nach ihrem Großvater geforscht habe. Das war der Fall. Schlaflos fragte sie sich, wer es gewesen sein konnte.

 

Christine Müller: Und dann kam die Endeckung, dass der Bruder meines Großvaters von Tel Aviv aus seinen Bruder gesucht hat. Bis 1965 gibt es eine Korrespondenz. Und ... das hat mich wirklich umgehauen. Anders kann ich es nicht sagen. ... Davon wusste ich überhaupt gar nichts und da kommt ja dann so viel rein: ... Hat das mein Vater gewusst, meine Großmutter gewusst, ... wie geht das eigentlich überhaupt? ... Das musste ich erstmal verdauen.

 

Vorerst kam sie dazu nicht. Zu aufgewühlt war sie durch die Nachricht.

 

Christine Müller: Irgendwann bin ich nachts aufgewacht und habe gedacht, ... wenn der 65, ist ja schon in meinem Bewusstseinsalter, ... noch mit Berlin korrespondiert und seinen Bruder sucht, dann muss der ja auch Angehörige haben, also muss es ja wohl Verwandtschaft geben. Das hat mich in der Nacht aus dem Bett getrieben, ja, das kam so wie der Blitz in mein Hirn, und hab ich gedacht, also das muss ich jetzt rauskriegen.

 

 

Sie machte sich auf die Suche. Verfasste einen Text, der als Suchmeldung im Radio in Jerusalem vorgelesen wurde. Fand die Adresse, wo der Sohn des Bruders ihres Großvaters, der Cousin ihres Vaters, wohnte, Moshe Ben Porat, inzwischen 91 Jahre alt. Im November 2008 fuhr sie dann nach Israel und traf ihre neue alte Familie. 25 neue Familienmitglieder hat sie nun, davon allein vier Cousinen in ihrem Alter. Die Erregung und die Freude waren überwältigend. Aber auch Schmerz und Trauer mussten sich mitteilen.

 

Christine Müller: Wir haben auch viel geweint, ... haben uns die Fotos angeschaut und dann ... festgestellt, dass wir fünf Frauen eine gemeinsame Urgroßmutter hatten, von der ich eben bis dahin überhaupt nichts wusste. Und das ist für mich auch so ein bisschen belastend und ... hat mich wütend gemacht, dass mein Vater mir das nicht erzählt hat. Er muss doch gewusst haben, dass er eine Großmutter in Israel hatte, wieso hat er das nicht gesagt? Ich kann ihn nicht fragen, aber für ihn ist es auch eine große vertane Chance und es ist für mich und meinen Bruder, glaube ich, auch eine vertane Chance, ... wir hätten ganz anders aufwachsen können. Da darf ich überhaupt nicht drüber nachdenken, das ärgert mich so richtig.

 

Trauer und Wut weichen nicht, trotz der Freude über die jüdische Verwandtschaft. Wie anders hätte das Leben aussehen können? Weiter als die kleine DDR, offener, an Kenntnis reicher. Sie hatte nicht nur den Großvater gesucht, der wohl kein Widerstandskämpfer war. Er wurde vermutlich aus Rache getötet, wie andere Juden auch, nachdem die jüdischen Untergrundkämpfer um Herbert Baum einen Anschlag auf die Naziausstellung „Das Sowjetparadies“ verübt hatten. Es war ihr um den Vater gegangen, über dessen Leid und Not sie gern mit ihm gesprochen hätte. Der in der NS-Zeit das Gymnasium verlassen musste und Bäcker wurde, mehrere Wochen in Berlin im Gestapogefängnis saß, im November 1944 ins Zwangsarbeitslager der Organisation Todt kam, sich zum Kriegsende zur Mutter durchschlug, heiratete und Kinder hatte: Christine und ihren Bruder. Der evangelisch getauft worden war, wohl, um ihn zu schützen. Sie war auch getauft, aber atheistisch erzogen worden. Als ihr Sohn lebensgefährlich erkrankte, betete sie, ohne zu wissen, wie. Und sie erfuhr von den Eltern, dass auch sie gebetet hatten. Jüdisch, in hebräischer Sprache? Sie fand schließlich zur evangelischen Kirche, mühevoll. Und nun?

 

Christine Müller: Ich war zu Gottesdiensten in der Synagoge. Ich hab zwar nicht viel verstanden, weil Vieles Hebräisch war, aber mir hat das Ritual sehr gut gefallen. Meine Familie, ... die ich gefunden habe in Israel, ist nicht religiös. Sie halten viele Traditionen ein, so weit es in den ... Lebensrhythmus passt. Ich kann es einfach nicht sagen. Ich fühle mich zugehörig, das schon, zu beiden Seiten, und so wird es wahrscheinlich bleiben. Ich werde nicht konvertieren. Aber ich interessiere mich für die jüdischen Feiertage, die weiß ich, ich schicke Gratulationen nach Israel, ich kriege von dort Gratulationen.

 

Es bleibt eine Zerrissenheit, das Erbe schrecklicher Erlebnisse ihres Vaters und das Erbe seines Schweigens. Eine aus Leid geborene Schuld an ihr. Solche Schuld bringen Juden am großen Versöhnungstag Yom Kippur vor Gott. Und Christen? Christine Müller wird weiter nach der Bewältigung ihrer Zerrissenheit suchen. Vielleicht lässt sie einmal das Kaddisch, das Juden zum Totengedenken beten, für den Großvater und den Vater sprechen. Vielleicht kann sie in den Psalmen, die Juden und Christen gleichermaßen viel bedeuten, einen Ausdruck für ihre Lage finden.

26.07.2015
Gunnar Lammert-Türk