Vergebung

Hände, die gelbe Blume halten

Gemeinfrei via unsplash/ Lina Trochez

Vergebung
Ein befreiter Weg in die Zukunft
31.01.2021 - 07:05
30.01.2021
Diederich Lüken
Über die Sendung:

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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„Sorry!“, sagt der Mann, der mich in einer Fußgängerzone versehentlich angerempelt hat. Das Modewort aus dem Englischen drückt das Bedauern über eine soeben vollzogene Fehlleistung aus. Manch einer sagt auch: „Entschuldigung“, oder genuschelt: „Schullijung!“ Dabei denkt niemand daran, dass den Ausdrücken ein ernstzunehmender Vorfall zugrunde liegt. Man sagt es geschwind, geht seiner Wege und lässt den andern ebenfalls seiner Wege gehen. Bei ernsthafteren Verstößen gegen gesellschaftliche Regeln kommt oft die merkwürdige Formulierung „Ich entschuldige mich!“, als ob man selbst seine eigene Schuld entfernen könnte, die man auf sich geladen hat. Man bleibt dabei bei sich selbst. Sachgerechter ist es, wenn man sagt: „Ich bitte um Entschuldigung!“ Dann schaut man nicht mehr nur auf sich selbst, sondern auf den anderen: Man überlässt es ihm, die Bitte um Entschuldigung anzunehmen oder abzuweisen. Etwas tiefer reicht das ebenfalls oft gebrauchte Wort „Verzeihung!“ Es steckt darin das veraltete Wort „zeihen“, jemand einer Sache bezichtigen. Die erste Silbe „Ver“ deutet darauf hin, dass man auf das Zeihen verzichtet, also etwa auf eine Anklage oder Rache. Auch hier ist man bei dem, gegenüber dem man schuldig geworden ist. Er ist es, der verzeihen kann. Niemand kann sagen: „Ich verzeihe mir!“, zumindest dann nicht, wenn man eine Schuld gegenüber einem Mitmenschen eingestehen muss.


Anders stellt sich die Sache dar, wenn es um mehr geht als um ein Anrempeln oder einen Versprecher; wenn eine Schuld vorliegt, die mit recht unverbindlichen Worten nicht aus der Welt zu schaffen ist. Es geht darum, dass durch ein falsches Verhalten jemand in Bedrängnis oder Not gerät; dass Vertrauen zerbricht, auch Selbstvertrauen; dass Lebensmöglichkeiten gestört oder zerstört werden. Eine Beziehung wird belastet, Vertrauen wird missbraucht, eine kriminelle Energie greift in die sonst vielleicht heile Welt des Geschädigten ein. Eine Last wird ihm aufgebürdet, die ihn behindert – und das ohne seinen und gegen seinen Willen. Es gibt so große Schuld, dass danach nichts mehr so ist wie vorher. Wen wundert es, dass Zorn sich einstellt? Zorn aber ist wie ein Schlangenbiss: Das Gift fließt in den Körper und zerstört ihn auch dann noch, wenn die Schlange längst geflüchtet ist. Man bleibt der Vergangenheit verhaftet, man ist nicht mehr Herr über das eigene Leben. Der Schuldige bestimmt das Lebensgefühl auch dann noch, wenn er längst aus dem Blickfeld verschwunden ist.

So ging es mir vor vielen Jahren. Ich erinnere mich gut. Eines Morgens schaute ich aus dem Fenster und ärgerte mich über meine Kinder. Sie hatten, so meinte ich, wieder einmal ihr kleines Fahrrad auf dem Gehsteig liegen lassen. Ich ging hinaus, um das Rad zu bergen. Es hatte in einem kleinen Anbau zu stehen. Als ich aber zu der Tür zu diesem Anbau kam, wurde ich stutzig. Die Tür stand offen. Ich ging hinein, das Kinderfahrrad unter den Armen. Da sah ich die Bescherung: Diebe waren eingebrochen und hatten Spielzeug meiner Kinder gestohlen. Das Fahrrad war ihnen wohl zu alt gewesen, sie hatten es einfach auf dem Gehsteig liegengelassen. Ich empfand eine ohnmächtige Wut. Es waren Kinder, die man bestohlen hatte! Meine Kinder! Und ich musste ihnen noch sagen, dass ihre Spielgeräte gestohlen worden waren; sie nahmen es erstaunlich gelassen. Ich aber lief tage- und wochenlang mit einem mulmigen Gefühl im Bauch herum. Ich verdächtigte in meinen Gedanken und Gefühlen alle und jeden dieser Untat. Dieses mulmige Gefühl beherrschte mich tagelang; noch heute, wenn ich daran denke, kommt es wieder auf. Wenn sich der oder die Schuldige bei mir gemeldet hätte, dann hätte ich ihr wohl vergeben können. Meine Tage wären von der emotionalen Lähmung befreit worden.  Doch ich wusste ja nicht, wer der Täter war. Es zeigte sich niemand, dem ich hätte vergeben können.


Vergebung im vollen Sinn des Wortes kann offensichtlich nur dann gewährt werden, wenn zwei Menschen in einer Beziehung zueinander stehen. Ich kann meiner Frau vergeben. Ich kann meinen Kindern vergeben. Ich kann dem vergeben, der hinter meinem Rücken gegen mich intrigiert hat. Schuld und Vergebung geschehen innerhalb einer Beziehung. Die ist es, die geheilt werden muss. Dann wird ein missbrauchtes Vertrauen wiederhergestellt. Eine kriminelle Handlung wird nicht mehr angerechnet. Man kann sich wieder in die Augen sehen. Wer vergibt, macht sein Leben etwas leichter, er muss nicht mehr „nach-tragen“. Eine Last wird von der Seele genommen. Man kann aufatmen. Nicht allein kann der es, dem Unrecht widerfahren ist. Wenn das Opfer dem Täter vergibt, ist es nicht das Opfer allein, dem Last abgenommen wird. Auch der Täter kann aufatmen. Die Schuld steht nicht mehr zwischen ihm und seinem Opfer. Ein Neues kann beginnen.


Die Redewendung: „Das ist vergeben und vergessen“ ist allerdings höchst problematisch. Wenn es wirklich dazu kommt, dass man einander vergibt, prägt sich das tief in das Gedächtnis ein. Aber durch die Vergebung ist die Erinnerung entgiftet. Man weiß voneinander, dass Vergebung gewährt wurde. Man kann dankbar dafür sein, dass etwas vergeben worden ist. Man kann sich freuen, dass eine gestörte Beziehung wieder in Ordnung gekommen ist. Man weiß es voneinander, aber man verwendet die Schuld nicht mehr gegeneinander. Man kann miteinander umgehen, ohne dass die alte Bitterkeit wieder aufkommt. Das Vergangene wird nicht wieder aufgewärmt. Aber niemand muss vergessen, dass er Vergebung erteilt oder erfahren hat. Das würde beide um eine wichtige Erfahrung ärmer machen.

Allerdings ist solches Vergeben an Voraussetzungen geknüpft. Die erste ist, dass das Gegenüber überhaupt akzeptiert, dass da etwas geschehen ist, was der Vergebung bedarf.
Die zweite Voraussetzung ist, dass der Täter überhaupt Vergebung wünscht.
Daraus folgt die dritte Voraussetzung: Die Reue. Der Täter bedauert, dass er etwas getan hat, wodurch er schuldig geworden ist. Er würde es gern rückgängig machen, aber das ist nun mal nicht möglich. Was geschehen ist, ist geschehen. Solange der Täter bei sich selbst bleibt, ist die Situation aussichtslos. Wenn die Last verschwinden soll, ist es notwendig, dass er zu seiner Schuld steht, sie bekennt, Wiedergutmachung versucht und den Menschen, an dem er schuldig geworden ist, um Vergebung bittet. Ob dieser dann wirklich die Schuld vergibt, steht in dessen Macht. Er ist der Souverän. Wenn aber tatsächlich die Schuld vergeben wird, kann es geschehen, dass sich ein großer Raum der Befreiung öffnet, dass die Luft zum Atmen bereinigt ist und dass zukünftiges Miteinander wieder möglich ist. Wenn man vergibt, ändert man nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Wenn einem vergeben wird, ebenso.

 


Dass es Grenzen für die Vergebung gibt, wird  immer wieder auf dramatische Weise deutlich. Da fährt ein Mann mit seinem Geländewagen in eine Fußgängerzone und überfährt wahllos die Passanten. Fünf von ihnen sterben. Wer will diesem Mann seine Schuld vergeben? Die Toten können es nicht. Das Leid der Angehörigen und der Verletzten ist so groß, dass wohl nicht daran zu denken ist, dem Täter zu vergeben. Manchmal hinterlässt ein Verbrechen auch Wunden, die ein Leben lang nicht heilen. Lebensläufe und Lebensplanungen sind zerstört. Da wirkt die Aufforderung, dem Täter doch zu vergeben, wie Hohn. Wer will dem schrecklichen Anders Behring Breivik vergeben, der 2011 in Norwegen 77 Menschen erschossen hat? Wer will den nationalsozialistischen Verbrechern vergeben? Die sechs Millionen Tote können es nicht, und den wenigen Überlebenden des Holocaust kann man es nicht abfordern. Alle hohen politischen Reden, die von Vergebung und Versöhnung handeln, wirken hohl angesichts des unermesslichen Leides, das dem jüdischen Volk angetan wurde.

In diesem Zusammenhang ist Eva Mozes Kor mit ihrer Geschichte ein extremes Beispiel, umstritten und beeindruckend zugleich. Sie und ihre Zwillingsschwester erlitten unsägliches Grauen in Auschwitz. Der Lagerarzt Josef Mengele missbrauchte beide zu medizinischen Zwecken, die erklärtermaßen zum Tod der beiden führen sollten. Nur ein eiserner Wille hielt sie am Leben, bis Auschwitz befreit wurde. Eva Kor ging im hohen Alter auf noch lebende Täter zu und sprach ihnen ihre persönliche Vergebung zu. Unter anderem geschah dies in dem sogenannten Lüneburger Prozess gegen den Auschwitz-Mitarbeiter Oskar Gröning im Jahr 2015. Dieser Angeklagte bereute ausdrücklich seine Taten. Eva Kor gab ihm, wie sie später sagte, ungeplant tatsächlich die Hand und gewährte ihm die so dringend erbetene Vergebung. Auf der anderen Seite legte sie als Nebenklägerin größten Wert auf einen gerechten Prozess. Aber sie wollte für sich die Schatten der Vergangenheit erhellen, sich selbst zum inneren Frieden verhelfen. Eva Kor wollte als Überlebende nicht einmal auf die Reue der Täter warten. „Das hieße ja wieder, ich gebe die Macht dem Täter. Ich will aber die Macht für mich, nicht für den Täter“ führte sie aus. Sie war, so gesehen, eine mächtige Frau – im Sinn dieser Selbstermächtigung. „Als Opfer fühlt man sich verletzt, machtlos“, sagte sie einmal. „Ich habe begriffen, dass mir nur eine einzige Macht bleibt. Und die habe ich eingesetzt“, betonte sie in Interviews. „Heilung durch Vergebung“ hieß ihr Motto; das war ihr Weg. In Lüneburg standen allerdings vor der Vergebung das Bekenntnis und die Reue Oskar Grönings. Auch für Eva Kor gab es keinen Automatismus oder eine pauschale Vergebung. Nur von Angesicht zu Angesicht vergab sie die erlittenen Grausamkeiten und wurde dadurch frei von Groll und Gram und vom Verhaftetsein an eine schreckliche Vergangenheit. „Bis zu diesem Zeitpunkt“, sagte sie, „hatte ich lediglich auf alles reagiert, was Menschen mir angetan hatten. Ich hatte also genauso gehandelt, wie es Opfer zu tun pflegen. Sie fühlen nicht, dass sie Kontrolle über ihr Leben haben. Also reagieren sie immer nur auf das, was andere Menschen sagen oder tun. Jetzt wurde mir plötzlich klar: Ich habe die Verfügungsgewalt über mein Leben. Ich habe Macht.“ Diese Macht heißt Vergebung. Für Eva Kor war es die Befreiung von ihrem Dasein als Opfer, war Befreiung zu einer innerlich veränderten Zukunft. Wobei die Zukunft in ihrem Leben dann natürlich nicht mehr lang war; sie starb 2019 in Krakau, im Alter von 85 Jahren.


Vergebung ist eines der wichtigsten biblischen Themen. Man kann weite Teile der Bibel unter dem Vorzeichen der Vergebung lesen. Allerdings zeigt sie wenig Mitleid mit den Tätern. Ihnen bleibt nur ein Ausweg aus der Schuld: Sie müssen Vergebung bei dem suchen, den sie geschädigt haben. Die allerdings soll ihnen auch gewährt werden.  Wie weitgehend die Forderung Jesu Christi nach Vergebung für die Schuldigen geht, zeigt seine Antwort auf eine Frage seines Jüngers Petrus. Der fragt ihn, ob es nicht ausreiche, wenn er seinem Bruder, der ihn offenbar ständig verletzt, siebenmal vergibt. Jesus antwortet: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Natürlich stellt er dabei keine mathematische Übung an, sondern fordert zu grenzenloser Vergebungsbereitschaft auf. Denn auch Gott, sein Vater, vergibt denen, die ihn ernsthaft darum bitten, in nicht enden wollender unendlicher Bereitschaft.

Dazu erzählt Jesus eine bewegende Geschichte. Ein junger Mann will sich von seinem Vaterhaus emanzipieren und fordert den Vater auf, ihm sein Erbteil auszuzahlen. Das geschieht, und wohlgemut zieht der junge Mann von dannen. Aber er kann schlecht mit dem Geld umgehen; er verprasst es. Hinzu kommt eine große Hungersnot, und schlussendlich finden wir den jungen Mann bei den Schweinen, die er hütet. Er will den Schweinen ihr Futter wegessen, nicht einmal das wird ihm vergönnt. Da geht er in sich und sagt sich: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich!“ Und er macht sich auf und kommt zu seinem Vater. Der aber denkt gar nicht daran, seinen Sohn mit dem Vergangenen zu behaften, er fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Der verloren geglaubte Sohn bekennt seine Schuld, und der Vater vergibt ihm nicht nur, sondern setzt ihn in alle seine früheren Rechte wieder ein und besiegelt das mit einem Siegelring. Er lässt ihn neu einkleiden und feiert ein rauschendes Willkommensfest. Sie sind beide befreit, der Sohn und der Vater; eine neue gemeinsame Zukunft hat sich ihnen aufgetan. Das ist wohl wert, gefeiert zu werden.


Wem aber vergeben wurde, muss dabei selbst zur Vergebung bereit sein. Sonst kann sie zurückgenommen werden. Jesus erzählt ein Gleichnis von einem Menschen, dem ungeheuer hohe Schulden erlassen wurden. Als er jemanden trifft, der ihm selbst eine kleine Geldsumme schuldet, greift er ihn körperlich an und lässt ihn ins Gefängnis werfen. Als der Gläubiger davon erfährt, nimmt er seinen Schuldenerlass zurück, setzt den Schuldner fest und drangsaliert ihn sogar – so lange, bis er seine Schuld bezahlen würde. Jesus setzt hinzu: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“ Im Vaterunser wird es auf den Punkt gebracht. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ heißt es da unmissverständlich.

Jesus selbst ist dafür das Vorbild und Urbild. Als ihn die Soldaten Roms ans Kreuz nageln, kann er nicht jedem in die Augen sehen und sagen: Ich vergebe dir; vor allem dann nicht, wenn der Täter meint, nur seine Pflicht zu tun. Aber Jesus lässt es dabei nicht bewenden. Eines seiner letzten Worte bei seiner Kreuzigung lautet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er bittet Gott darum, denen zu vergeben, die ihn foltern und einem furchtbaren Tod überantworten.

Wenn ich aber glaube, nicht vergeben zu können, gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Ich fühle, dass der Täter ein prinzipiell gleichwürdiger, wertvoller Mensch ist wie du und ich. Er ist nicht besser und nicht schlechter als ich selbst. Denn in mir sind auch alle Anlagen für jede Art von Tat und Untat vorhanden. Deshalb kann ich versuchen, ihm seine Schuld zu vergeben - und damit auch mir selbst die meinige. Und wenn das nicht möglich ist, wie es bei besonders schweren Verbrechen der Fall ist und notwendigerweise auch sein muss, bleibt die Bitte Jesu am Kreuz über mir bestehen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das ist eine Chance, dennoch Frieden zu finden und, allen Verletzungen zum Trotz, eine neue Zukunft.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Léon Berben, Praeabulum decimi Toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

2. Léon Berben, Fuga prima primi toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

3. Léon Berben, Fuga terzii toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

4. Léon Berben, Intonatio octavi toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

5. Léon Berben, Toccata arpeggiata sedundi toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

6. Léon Berben, Finale septimi toni, CD-Titel: Murschauser, Organ Works

7. Matthias Krampe, Toccata, CD-Titel: Organum Classis

 

30.01.2021
Diederich Lüken