Heißer Tee statt ‚heißer Herbst‘

Gemeinfrei via Pixabay / Hebi B.

Heißer Tee statt ‚heißer Herbst‘
Gedanken zur Woche von Ulrike Greim
28.10.2022 - 06:35
29.07.2022
Ulrike Greim
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Wir müssen reden.
Ich fürchte, wir kommen nicht drumherum.

Die Erfahrungen der letzten Woche zeigen mir ganz dringend: Wenn wir uns weiter nur in unseren Filterblasen bewegen, kommen wir nicht weiter.

Ein Beispiel: Keili, ein Bekannter, an der Supermarktkasse, der ein kleines Päckchen Wurst hochhält und aufgebracht zu mir herüberruft: „Das wird alles immer teurer, das ist doch total irre. Das ist doch nur eine Frage der Zeit, bis es knallt.“ Und als ich nachfrage, was er damit meint, sagt er: Das sei doch alles ein Theater, ob wir das nicht sehen. Das sei alles inszeniert. Und als ich frage, wer das inszenieren würde, sagt er: die Zusammenhänge, die Fakten, die lägen doch auf der Hand.

Und ich denke: In welcher Welt lebt er? Aus welchen vergifteten Kanälen bezieht er seine Infos, warum glaubt er ihnen?
Und ich weiß, er denkt dasselbe über mich. Und ich stelle die Uhr danach, dass es kommt und prompt kommt es, das Wort von den ‚Systemmedien‘, und dass wir alle gleichgeschaltet sind, das wäre doch Gehirnwäsche.

Irre, oder?

Und am Montag, wir waren gerade eine Runde spazieren, gehen noch durch die Stadt, da kommt uns ein Zug Menschen mit Laternen entgegen. Es liegt Aggression in der Luft, und ich sehe Keili, der mitläuft hinter Plakaten, wie „Krieg ist Verrat“ und „Sie machen unser Land kaputt“ und „Medien – Sie entscheiden, welche Wahrheit du kennst“. Irgendjemand ruft „Frieden mit Putin“.
Und Keili und ich – wir kriegen einen kurzen Blick zueinander, und ich spüre die Fronten: Wir hier und die da. Und ich denke: Nein! Ich will das nicht! Wir knabbern alle an ähnlichen Themen. Inflation betrifft uns alle, der Krieg drückt uns alle, Corona macht uns schlapp, wir alle suchen Wege, mit Energie gut umzugehen.

Abends lese ich, es waren mehr als 20.000 Menschen, die alleine hier bei uns in Thüringen auf die Straße gegangen sind – gegen die Regierung. Das sind keine Themen nur für die Regierungen, alle sind betroffen, die gesamte Gesellschaft. Es spaltet Familien und Freundeskreise.

Und deswegen müssen wir reden. Und zuhören. Uns zum Kaffee einladen, zum Tee, auf Augenhöhe, behutsam, aber klar. Dies ist der einzige Impuls, bei dem ich konsequent den Eindruck habe, dass da Bewegung drin liegen kann: in dem man miteinander spricht. Über Corona, die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Maßnahmen, über den Krieg und die Waffen, und die Frage, wie das mit den Energiepreisen weitergeht. Das ist nötig. Das braucht uns alle. Und eine ruhige Umgebung, in der man sich zuhören kann. Runde Tische, auch in Wohnzimmern.

So habe ich das erlebt mit etlichen Freundinnen und Bekannten in den letzten Wochen: ein Kaffee, Ruhe und Wahrhaftigkeit.
Lasst uns die Bubbeln crashen.
Lasst uns einander nicht mehr aus dem Weg gehen.

Sondern dem Wunder trauen.
Denn vielleicht ist es mit unserer Gesellschaft, wie mit der Heilung des Taubstummen in der Bibel. Er stammelt. Freunde bitten Jesus, ihn zu heilen. Und Jesus nimmt ihn beiseite, abseits des Meinungsgewirrs, raus aus der Bubble, aus dem Strom der Worte und dem, was die Leute sagen. Er legt ihm die Finger in die Ohren, denn alles beginnt mit dem Hören. Vor dem ersten mündigen Reden steht immer das Hören.
Und dann berührt Jesus seine Zunge. Dabei seufzt er gen Himmel und sagt: Tu dich auf. „Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst,“ heißt es im Markusevangelium (Mk 7, 35).
Ein Wunder. Gelöste Kommunikation, offene Worte, Hören und Reden, Geben und Nehmen.
So kann es sein. So ist es gedacht.

Können wir nicht die Filterblasen mal für ein Wochenende abschalten? Und wir treffen uns unter der Linde im Dorf? Oder bei dir in der Küche? Heißer Tee statt ‚heißer Herbst‘. Und wir seufzen zum Himmel, er möge uns füreinander auftun. Und wir reden analog, ernsthaft, schmerzhaft sicherlich, aber respektvoll und Auge in Auge, so dass wir uns als Menschen wahrnehmen können und nicht mehr in Fronten denken und unverständliche Vorwürfe stammeln. So dass wir sehen, dass wir verbunden sind, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.
Das ist die Heilung, die ich unserer Gesellschaft wünsche.

Und Sie? Reden Sie mit. Geht das auch auf facebook? Wir versuchen es, unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

Es gilt das gesprochene Wort.

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29.07.2022
Ulrike Greim