Das Kreuz umarmen

Morgenandacht
Das Kreuz umarmen
17.03.2021 - 06:35
10.03.2021
Eberhard Hadem
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Es ist nur eine kleine Nebengeschichte. Sie spielt in Jerusalem, auf dem Weg zur Kreuzigung Jesu, in den letzten Stunden. Nur ein einziger Satz berichtet davon, dass jemand das Kreuz Jesu auf seine Schultern nimmt. Ein Mann, Simon von Kyrene, wird von römischen Soldaten gezwungen, eine Zeitlang das Kreuz Jesu zu tragen. Ein Migrant aus dem fernen Libyen, der in der römischen Provinz Arbeit gefunden hat. Er kommt von der Arbeit auf dem Feld. Die Soldaten ergreifen ihn und legen das Kreuz auf ihn, dass er‘s Jesus nachtrüge, so erzählt es Lukas in seinem Evangelium (Lk 23,26). Genauer gesagt: ihm wird der Querbalken auf die Schultern gelegt, über den Jesu Schultern und Arme später fixiert werden. Wuchtig und schwer ist der Balken, der bei einer Kreuzigung dann mit dem Gewicht eines erwachsenen Menschen an dem steil hochragenden Balkenstamm hochgezogen und oben eingefügt wird. Den Querbal-ken trägt niemand mal so unter dem Arm. 

Die Bibel erzählt (Mk 15,21), dass jener Simon der Vater von zwei Söhnen war. Sogar die Na-men der Söhne sind bekannt: Alexander und Rufus. Als solle deutlich gemacht werden, dass diese kleine Geschichte wirklich so geschehen ist. Was wird jener Simon später zuhause von dieser Begebenheit erzählt haben? Vielleicht haben die beiden Söhne gefragt: „Vater, wieso hast du einen Strafbalken auf deiner Schulter tragen müssen? Was bilden sich die Römer ein, dich zu zwingen, das Kreuz eines anderen zu tragen? Wieso gibst du dich für alles her, und dann auch noch für einen Verurteilten?“ 

Doch Simon von Kyrene hat sich nicht für alles hergegeben. Er hat sich für einen leidenden Menschen hergegeben, der in diesem Moment seinen Weg kreuzte. Für den hat er sich in An-spruch nehmen lassen, ohne zu wissen, wer es war. Simon tat dabei genau das, was Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Da ist einer in die Hände von Räubern gefallen und verletzt. Drei Menschen gehen an ihm vorbei, aber nur einer hilft. Einer aus Samarien, ein Ausländer. Der ist der Nächste geworden für den, der unter die Räuber gefallen war. Der war barmherzig. Und Jesus sagt: So geh hin und tu desgleichen! 

Ich weiß nicht, ob Simon von Kyrene die Geschichte vom barmherzigen Samariter gekannt hat. Aber nach ihrem Sinn hat er gehandelt. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, dass Simon die Aufgabe nicht ganz freiwillig übernommen hat. Kein einziges Wort ist von diesem Simon über-liefert. Nur Taten. Barmherzig sein und das Kreuz tragen, eine Zeitlang. Er ließ sich in An-spruch nehmen, weil die Situation eben so war. So wie viele helfende Hände, Arme und Schul-tern heute, in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Intensivstationen. Die Krankenschwes-tern und Pfleger sind barmherzig. Und man hört von ihnen kaum einmal ein Wort. Aber ihre Taten zählen. Sie tragen das Kreuz der Kranken und Leidenden eine Zeitlang mit. Ohne immer zu wissen, wem sie da helfen. Sie üben Barmherzigkeit, weil sie den Kranken, Schwachen und manchmal auch den zum Sterben Verurteilten die Nächsten werden. 

„Das Kreuz zu umarmen ist eine christliche Geste, die das Leben wählt. Sie heißt, das Kreuz, die Schwierigkeiten, die Erfolglosigkeit, die Angst allein dazustehen, in Kauf zu nehmen. Die Tradition hat uns nie einen Rosengarten versprochen. Das Kreuz zu umarmen bedeutet heute, in den Widerstand hinein zuwachsen. (…) Wir wachsen im Leiden.“ 

So sagt es Dorothee Sölle. Helfende Hände und Arme, die das Kreuz umarmen – die dem Lei-den widerstehen. Wie damals Simon von Kyrene. Und Ärzte und Pflegekräfte heute, als wären die biblischen Geschichten auch für sie geschrieben worden. 
So ist das mit kleinen Nebengeschichten. In ihnen spiegelt sich häufig das Wesentliche. Zeigt sich das, was systemrelevant ist. Nicht unbedingt bestimmte Berufe, sondern vor allem be-stimmte Taten. Mit denen Menschen anderen zu Nächsten werden.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

10.03.2021
Eberhard Hadem