Der unerhörte Schrei

Morgenandacht
Der unerhörte Schrei
06.04.2016 - 06:35
27.12.2015
Evamaria Bohle

Es war ein azurblauer Schrei. So hörte ich ihn damals. Ein Schrei, von ganz tief unten, von irgendwoher, wo die Eingeweide energetisch verbunden sein mögen. Die Runde saß für Sekunden wie erstarrt. Ein Stuhlkreis. Kongressteilnehmer: Männer und Frauen aus Welten des Theaters, der Kirche, der Universität. Anzugträger und existenziell schwarz Gewandete, Jeansstudentinnen und intellektuelle Lässigkeit, randlose Brillen und rote Stiefel zum Kostüm. Eine heterogene Gruppe. Man kennt sich erst seit zwei Tagen. Das Gesprächsniveau: anspruchsvoll. Sprache der Definition, der klärenden Begriffe, der theoretischen Einkreisung. Lange Redebeiträge. Gegenrede. Müdigkeit zwischen den Worten. Etwas Bleiernes zieht mir am Geist.

 

Und dann ist dieser Mann an der Reihe, der bislang schweigend zugehört hat. Er gehört zur Welt der Bühne. Alle sehen ihn an. Und der Mann beugt sich vor auf seinem Stuhl, er stützt die Hände auf die Knie, er atmet ein, den ganzen Raum scheint er einzuatmen, die Wendung „Luft holen“ bekommt eine ganz neue Dimension, und dann schreit er. Tief aus dem Bauch. Lange. Länger. Immer noch. Aufgerissener Mund. Geschlossene Augen. Was für ein Schrei. Als er fertig ist, lächelt er, sagt noch ein paar Sätze in das erstarrte Schweigen, in dem ein nervöses Gekicher herumperlt. Die Erinnerung daran, was genau er sagte, ist unscharf. Meine Sinne waren noch nicht wieder auf Worte justiert. Aber er fragte wohl: „Wo seid ihr eigentlich? Ihr seid nur in eurem Kopf! Worüber redet ihr eigentlich? Es ist doch alles schon da!“ So in etwa. Dann schrie er erneut seinen sehr großen Schrei, erhob sich, grüßte freundlich und ging.

 

Das liegt Jahre zurück. Aber dieser Schrei beschäftigt mich immer noch. Schreie sind in unserer Kultur eigentlich gar nicht vorgesehen. Oder nur an ausgewählten Orten: Im Kreißsaal, auf dem Kinderspielplatz, im Theater. Nicht mal am Grab wird geschrien. Die Totenklage in Deutschland ist still. Erfahrungen mit Kriegsgeschrei haben heute auch nur noch wenige mit Deutsch als Muttersprache. Und dann so ein Schrei. Mitten in einer Debatte.

 

Unerhört, sagen manche, wenn etwas ungehörig ist. Unerhört fanden wohl auch einige der Diskutanten damals das Geschehen. Unerhört blieb auch dieser Schrei, der seinerseits etwas bis dahin Unerhörtes ausdrücken wollte. Im weiteren Debattieren kam er nicht mehr vor. Jedenfalls nicht in den Redebeiträgen. Doch vermutlich hat er anders gewirkt. In mir hallt er ja auch immer noch nach.

 

Ich kann so nicht schreien. Kann sein, ich will es auch gar nicht. Jedenfalls tue ich es nicht. Aber unzweifelhaft braucht es die Kraft derer, die so schreien können. Sie weiten den Raum der Wahrnehmung. Vor allem für die, die in den Worten so zuhause sind, dass sie vergessen, dass Worte nicht mehr als Zeichen sind, für das, was jenseits der Worte ist. Das Leben. Das Ungehörte. Das Nichtsagbare. Der Schrei steht vor allem Begriff. Der Schrei ist international. Der Schrei öffnet für das, was jenseits der Worte wartet. Für den Atem etwa, ohne den kein Leben ist. Für die Seele? Für Gott? Ich denke auch an den Schrei Jesu kurz vor seinem Tod, von dem der Evangelist Markus erzählt. Unartikuliertes Gebet eines Gefolterten.

 

Ob anders redet, wer mitten im Leben so zu schreien versteht? Diesen Schrei jedenfalls trage ich jetzt immer bei mir, diese unerhörte Szene. Und wenn der Geist bleiern wird von zu viel oder den falschen Worten, dann hole ich diesen Schrei in Debatten, Konferenzen, Talkshows hinein. Nur in Gedanken. Aber was soll ich sagen: Es hilft.

27.12.2015
Evamaria Bohle