Göttliche Abstandsregel

Morgenandacht
Göttliche Abstandsregel
25.06.2020 - 06:35
07.05.2020
Holger Treutmann
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

1,50 m. Das ist doch mal eine klare Ansage. Bei allen sozialen Begrenzungen und möglichen Lockerungen, die regional ja durchaus verschieden sind, hat sich diese Zahl eingebürgert: 1,50 Abstand. Zur Sicherheit, weil es das Virus schwer hat, diese Distanz zu überspringen; höchstwahrscheinlich jedenfalls.

 

Soziale Distanz. Das ist schon eine schwere Übung. Wie oft streckt sich die Hand wie von selbst dem anderen entgegen. Und erschrocken ziehe ich sie zurück, wenn das Gegenüber nicht dergleichen tut. Einige winken zum Gruß, andere legen die Hände zusammen oder sich selbst auf die Schulter. Ob etwas bleiben wird von dieser geübten Distanz der letzten Wochen?

 

Manche mahnen, es könnte eine zweite Welle kommen. Andere sind entspannt. Wieder andere ärgern sich mehr über die Schäden, die die erzwungene Distanz angerichtet hat, als dass sie sich darüber freuen können, dass schlimmste Szenarien an uns vorüber gegangen sind.

So viel kollektive Unsicherheit gab es in der Gesellschaft lange nicht. Wem ist zu vertrauen? Der Politik, der Wissenschaft, den Medien, der Stimme des Volkes, der Familie oder am besten der eigenen Intuition? Nicht einmal innerhalb jeder einzelnen Instanz gibt es eine einhellige Meinung.

 

Wahre und falsche Propheten, die gab es immer, auch zu biblischen Zeiten. Jeremia, selber Prophet, war kritisch mit seinen Kollegen, die sagten: Es wird schon gut werden. Es wird kein Unheil kommen. Wir können so weiter machen wie bisher. Es wird wieder so, wie es vorher war. Jeremia nennt sie Lügenpropheten, damals, als Israel bedroht war, vor 2500 Jahren. Aber er spürt, dass ihre Worte in der Bevölkerung auf mehr Resonanz treffen als seine pessimistische Sicht der Dinge.

 

Nein, sagt er, Gott gibt nicht immer das, was wir uns wünschen. Er ist nicht dann Gott, wenn er unsere Hoffnungen bestätigt. Er lässt sich nicht für unsere Pläne vereinnahmen. Vielmehr wartet er darauf, dass wir falsche Wege verlassen – sonst wird es bedrohlich.

 

Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt? (Jer 23, 23f)

 

Wie ist das mit Nähe und Distanz?

Schon das menschliche Miteinander zeigt: Natürlich ist es schön, wenn man sich ohne Maske im Gesicht unterhalten kann, oder gar umarmen. Erzwungene Nähe kann aber auch nerven. Wenn alle zu Hause bleiben müssen und man sich nicht aus dem Weg gehen kann.

 

So auch mit Gott.

Sicher sucht der Glauben die Nähe Gottes – im Gebet, durch Meditation, die Worte der Bibel, in der Musik oder der Natur. Oder unter dem Dach großer Kirchen in der Gemeinschaft der Gläubigen. Aber auch Distanz zu Gott ist wichtig. Wer sich seines eigenen Glaubens gar zu sicher ist, vergöttert möglicherweise nur seinen eigenen Interessen. Bin ich denn nur ein Gott der Nähe und nicht auch ein Gott der Ferne?

 

Es gibt eine gefühlte Gottesnähe, die verkennen lässt, wo wir Glaubenden selbst auf dem Holzweg sind. So als könnten wir Gott in unseren Bann ziehen, und nicht er umgekehrt uns. Meinst du, dass sich jemand heimlich verbergen könnte, dass ich ihn nicht sehe, spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?

 

Gerade in Zeiten, da Nähe und Distanz untereinander neu ausbalanciert werden müssen, hat dieses Gotteswort auch etwas Tröstliches. Gott erschließt sich nicht nur durch Nähe und Wärme, sondern auch im Abstand respektvoller Ehrfurcht. Mose, der das Angesicht Gottes sehen wollte, muss erfahren, dass er der Wucht Gottes nicht gewachsen wäre. Er darf hinter ihm hersehen.

 

So eine göttliche Abstandsregel hat auch etwas Gutes.

Sie lehrt eine prinzipielle Skepsis allen Predigern und Propheten gegenüber. Sie sind wohl zu hören, weil sie versuchen Orientierung zu geben für die nächsten Schritte in die Zukunft. Diese Skepsis aber ist kein Misstrauen, sondern Ausdruck des Glaubens. Eines Glaubens, der sich allein von Gott leiten lassen will. Und der sich, im besten Falle, bewusst ist: Um den richtigen Weg muss ich mit Gott und meinen Glaubensgeschwistern ringen, immer neu.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.05.2020
Holger Treutmann