Grundgesetz und Zehn Gebote neu gelesen

Morgenandacht
Grundgesetz und Zehn Gebote neu gelesen
30.10.2018 - 06:35
13.09.2018
Heidrun Dörken
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Wovon ich überzeugt bin und was mich trägt, das erwerbe ich neu, wenn ich es mit den Augen anderer ansehe. Diese Erfahrung habe ich im letzten Jahr in meiner Heimat Frankfurt am Main gemacht:

 

Zehn Berufstätige, die meisten zwischen fünfzig und sechzig. Wir haben uns verpflichtet, für ein Jahr als Mentor oder Mentorin jeweils einem geflüchteten jungen Menschen Anfang zwanzig zur Seite zu stehen. Damit es klappt mit dem Übergang von der Schule zur Ausbildung. Zeitaufwand: Wenige Stunden pro Woche nach der Arbeit. Einfach das, was viele in unserem Land ehrenamtlich machen. Wir haben uns zu zweit getroffen, viel Deutsch gesprochen, Praktika vermittelt bei der Feuerwehr oder beim Steinmetz und Bewerbungen geschrieben. Es gab eine Menge Hürden.

 

Um es vorweg zu nehmen: Acht von zehn haben es am Ende geschafft, einen Ausbildungsplatz im Handwerk zu bekommen oder sich für einen höheren Schulabschluss zu qualifizieren. Das war unser Ziel. Genauso beglückend waren die Gespräche am Rand. Mit gewachsenem Vertrauen haben wir uns über Kultur, Politik und sogar Religion ausgetauscht. Die meisten der jungen Leute waren aus Afghanistan, dem Iran oder Syrien geflohen. Sie sind muslimisch, zum Christentum konvertiert oder auch jetzt frei, ohne Religion zu leben. Sie wollen sich in einem demokratischen Land zurechtfinden. Doch gerade frei und mit vielen Möglichkeiten hilft ein inneres Fundament sich zurechtzufinden, ob es religiös ist oder nicht. Es war auch für uns selbst schön, darüber zu reden. Was sind meine Grundüberzeugungen? Was gebe ich einem Jüngeren mit auf den Weg als Anstoß für seine eigene Suche?

 

Wir haben einen neuen Blick auf das eigene Land gewonnen. Was wir oft als selbstverständlich hinnehmen, die Grundrechte zuallererst, ist unendlich kostbar. Wir haben das Grundgesetz gelesen. Auf Deutsch. Und dann auf Farsi, der Sprache, die im Iran gesprochen wird, und auf Arabisch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Wie schön das auch in anderen Sprachen klingt. Und wie wir „Würde“ übersetzen. Viel Gesprächsstoff.

 

Über religiöse Dinge zu sprechen verlangt noch mehr Vertrauen und Respekt. Nicht nur als Pfarrerin, auch als Bürgerin meine ich, die 10 Gebote (1) sollte jeder gehört haben und kennen, ob man gläubig ist oder nicht. Wir verdanken sie den Juden. Nach biblischer Überlieferung hat sie Mose am Berg Sinai empfangen. Sie stecken den Raum für ein menschliches Miteinander ab. Du wirst nicht töten, nicht Ehen zerstören, nicht stehlen, nicht falsche Aussagen machen, nicht das Eigentum deines Nachbarn begehren. Diese Gebote schützen den Mitmenschen vor meinem Egoismus. Und umgekehrt bin ich auf den gleichen Schutz angewiesen, wenn ich sicher und in Frieden leben will. Wie du mir, so ich dir. Sicher, jedes Gebot muss im konkreten Fall diskutiert und ausgelegt werden.

 

Wir haben nicht über alle Gebote ausführlich gesprochen. Doch das vierte war völlig selbstverständlich für die jungen Leute und zugleich schmerzlich: Ehre Vater und Mutter. Manche haben ihre Familie durch Terror und Krieg verloren. Oder sie lebt weit entfernt. Ich verstehe das vierte Gebot auch so: Für unser Überleben sind wir auf intakte soziale Zusammenhänge angewiesen. In den Zeiten des Mose und auch in der Heimat mancher Geflüchteten war das vor allem die Großfamilie: Lebens- und Arbeitsraum, Schule und Sozialversicherung, Altersheim und Krankenhaus, alles in einem. Das Leben bei uns ist differenzierter. Doch nach wie vor gilt: Ohne gegenseitige Solidarität geht es nicht. Egoismus ist eine trügerische Basis für gelingendes Leben. Das göttliche Gebot der Solidarität bleibt unverzichtbar. Das sagen die Zehn Worte vom Sinai. Was für ein Schatz sie sind, habe ich durch die Augen anderer neu gesehen.

 

(1) https://www.ekd.de/Zehn-Gebote-10802.htm;

Informationen zum Mentoren-Projekt: http://www.berami.de/mentea/

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.09.2018
Heidrun Dörken