Kultur des Zweifels

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Pradamas Gifarry

Kultur des Zweifels
Morgenandacht von Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit
15.03.2023 - 06:35
01.02.2023
Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit
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Ich lese gerade das neueste Buch von Juli Zeh – zugegeben: Es ist nicht „ihr“ Buch, sondern eins, das sie gemeinsam mit dem Autor Simon Urban schrieb. Kein Roman, sondern eine Art neuzeitlicher  Briefwechsel zwischen zwei Freunden aus Studientagen. Sie korrespondieren per E-Mail und  WhatsApp. Sie mögen sich und streiten, ringen um die richtigen Standpunkte und driften dabei immer  mehr auseinander. Sie leben heute beide in verschiedenen Welten.  Sie kamen mal aus einer gemeinsamen. Früher lebten sie zusammen in einer WG und studierten gemeinsam. Heute arbeitet Stefan als Journalist in einer Führungsposition bei einer großen Hamburger Wochenzeitung. Theresa ist Landwirtin in Brandenburg und versucht verzweifelt, ihren Bio-Milchhof zu retten. Das Buch ist anstrengend – wie die Themen, die die beiden immer wieder diskutieren: Klimapolitik und Nachhaltigkeit, Gendersprache und Rassismus, Feminismus und Extremismus. Es prallen dabei Welten aufeinander.

Erst fand ich das Buch anstrengend, die Diskussion zwischen den beiden zu abstrakt durch die gewählte Kommunikationsform digital statt analog. Aber so sieht unsere Wirklichkeit ja tatsächlich aus an vielen Stellen. Wir sind viel mehr digital unterwegs. Gestritten wird in den Sozialen Medien und weniger am Küchentisch. Und es gibt diese vielen anstrengenden Themen, die immer kompromissloser verhandelt werden, ob beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine oder bei der Genderthematik. Das Buch zog mich also immer mehr in den Bann. Hier eine kurze Kostprobe - Theresa schreibt an Stefan:

Ich glaube, ich bin gerade dabei, das Zweifeln zu beenden. Vielleicht liegt das nicht nur an mir. Vielleicht kann man in diesen Zeiten nur für oder gegen das System sein. Die Plätze zwischen den Stühlen werden gerade mit Macht eliminiert. Grauzonen werden trocken gelegt, Ambivalenzen ausradiert. Möglicherweise können wir uns alle demnächst den Zweifel nicht mehr leisten.

Ich denke darüber nach. Stimmt das: Lassen wir das Zweifeln nicht mehr zu? Gilt nur noch die Entscheidung. Dafür oder dagegen? Freund oder Feind? Wenn ich ehrlich bin, lässt sich das nicht von der Hand weisen: Das Klima ist unerbittlicher geworden. Es gibt Diskussion, die plötzlich am Arbeitsplatz und unter Freunden entstehen, die keine mehr sind. Es geht dabei nicht um offenen Meinungsaustausch, sondern um Positionen, die nicht verhandelbar sind. Ganz anders beginnt Jesus  seinen Weg. Er führt in die Wüste. Dort ringt er mit sich – siebzig Tage lang- ringt mit dem Teufel um die richtige Entscheidung. Es gibt dabei immer zwei Möglichkeiten. Meinungen werden ausgetauscht. Argumente herangezogen. Erst am Ende findet Jesus zu seiner Entscheidung. Vorher setzt er sich dem Zweifel aus: mitten in der Wüste, wo die Stimmen am lautesten sind.

Die ganze Passion handelt von Menschen, die ringen um die richtige Entscheidung, den richtigen Standpunkt. Pilatus zögert, Jesus zu verurteilen, weil er an seiner Schuld zweifelt. Petrus ringt bei der Verhaftung Jesu um die Frage: Gehen oder Bleiben, Judas ringt um die Frage des Verrats, den er hinterher bitter bereut. Und ganz am Ende, als bereits Ostern ist, ist immer noch Platz für Thomas, den großen Zweifler unter den Jüngern. Er will sich erst in aller Ruhe und persönlich überzeugen, dass Jesus auferstanden ist. Und der? Nimmt sich Zeit für den Zweifler. Verurteilt ihn nicht. Ist für ihn da.

Ich bin nicht fertig mit dem Buch. Ich ahne nur, wie es ausgehen wird: Es wird knallen. Die Freundschaft der beiden, ihre Beziehung, ihre Arbeit, ihr persönliches Glück, der Friede im Ganzen – alles fliegt auseinander. Ich hoffe, dass wir es anders hinkriegen. Dass wir wieder mehr Ambivalenzen aushalten und den Zweifel dulden. Auch den Zweifel an uns selbst und dem, was wir für richtig halten. Eine Kultur des Zweifels statt des Rechthabens. Ein Raum mit vielen Stühlen und Gespräch von Angesicht zu Angesicht: offen und neugierig, zugewandt, erhitzt und engagiert. So wie damals in der WG am Küchentisch.

Es gilt das gesprochene Wort.

01.02.2023
Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit