Respekt vor dem Spiegel

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Erik Eastman

Respekt vor dem Spiegel
Morgenandacht von Holger Treutmann
28.09.2022 - 06:35
11.06.2022
Holger Treutmann
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Vor Spiegeln habe ich Respekt.
Ich bin kein großer Heimwerker. Ein Bild bringe ich schon irgendwie an die Wand. Aber vor einem Spiegel habe ich Respekt. Schon beim Hausputz verlangt er immer besondere Aufmerksamkeit. Immer habe ich Angst, ich könnte abrutschen, wenn ich Hand anlege. Was, wenn er aus der Halterung fällt oder sich nur ein wenig verkantet? Ruckzuck ist eine Ecke rausgebrochen, oder das ganze Ding stürzt mit großem Radau in die Tiefe und splittert in tausend Stücke.

Wenn ein Spiegel kaputt geht, bedeutet das Unglück, heißt es. Dieser Aberglaube hat sich wohl tief auch in mein Bewusstsein gegraben. Ich vermute: das hängt damit zusammen, dass ein Selbstbild zerbricht. Und das kann mich als einzelne Person betreffen, aber auch die Gemeinschaft, in der ich lebe. Wer aus Verzweiflung oder Wut sein eigenes Bild im Spiegel zerschlägt, weiß, dass es so nicht weiter geht. Er – oder sie – will etwas Neues, ohne zu wissen, was kommen soll.

In diesem Herbst sorgen sich viele, nicht nur über die gestiegenen Preise oder die Heizkosten. Sondern auch, ob unsere Gesellschaft die Herausforderungen bestehen kann. Oder wütende Proteste die Gemeinschaft zerschlagen könnten. Das erwarte ich nicht. Aber ich frage mich, ob unser Selbstbild noch stimmt. Freiheitliche Demokratie.  Soziale Marktwirtschaft. Für mich sind das hohe Werte. Ich möchte sie nicht verlieren. Aber wie sehr habe ich und haben wir uns schon an ihre Wohltaten gewöhnt? Für viele sind sie so selbstverständlich, als hätten wir einen Anspruch darauf, der uns als Bürger nichts kostet. Die Ideale, die wir als Einzelne und als Gesellschaft eigentlich vertreten – die sind nicht leicht durchzuhalten. Auch mein Spiegel zeigt mir nicht immer den, den ich gerne sehen würde. Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Fairness im Wettstreit. Fairness auch gegenüber der Natur und den nachfolgenden Generationen.

Braucht unsere Demokratie ein Update? Ist ihr Spiegelbild matt und blind geworden durch Anspruchsdenken und verfettete Gewohnheit? Ich frage auch nach den christlichen Werten, nach Nächstenliebe, Hilfe für die Schwachen, gleiche Chancen für alle, Respekt vor dem Leben und der Schöpfung. Braucht es ein neues Bild unserer Gesellschaft, um ihren Werten und Idealen näher zu kommen? Muss das alte Selbstbild zerbrechen?

Orientierung in persönlichen oder gesellschaftlichen Krisen suche ich in den Worten, die der Apostel Paulus über die Liebe geschrieben hat. Ich glaube, dass Gott die Liebe ist und dass die Liebe uns als Menschen fähig macht, Gutes zu schaffen. Paulus schreibt über die Liebe, dass sie langmütig ist und freundlich; dass sie nicht das Böse sucht, dass sie sich an der Wahrheit freut und nicht am Unglück des Feindes. Ein radikales Bild der Liebe: Ihr Vertrauen ist immer stärker als das Misstrauen. Ihre Hoffnung ist stärker als die Resignation. Ihre Ausdauer und Leidensfähigkeit trägt alle gemeinsam über die Untiefen von Krisen und Entbehrungen hinweg.

Am Ende, so heißt es bei Paulus, bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe - als die starken Kräfte dieser Welt. Ich teile den Optimismus des biblischen Apostels - wir sind dazu fähig. Auch wenn das Bild von einer neuen Welt, von einer Welt wie sie sein könnte und müsste, jetzt noch trübe ist wie ein beschlagener Spiegel. Das ging auch dem Apostel so -  Wir sehen hier nur ein undeutliches Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Wir werden erkennen, wie wir schon von Gott erkannt und gewollt sind.

Ich habe Respekt vor dem Spiegel, und wische nur  -vorsichtig über seine Oberfläche. Um zu ahnen, wer wir sind und wie es werden könnte.  

 

Es gilt das gesprochene Wort.

11.06.2022
Holger Treutmann